Warum essen wir, was wir essen?

Über Essen und Ernährung wird kontrovers diskutiert. Diese drei Bücher beleuchten unser Essverhalten aus verschiedenen Perspektiven.

„Essen ist eine Vitalfunktion, die – im Gegensatz etwa zum Atmen oder Schlafen – schon immer kulturell überformt ist“, so die Kulturwissenschaftlerin Christine Ott. Sie untersucht Essgewohnheiten und -vorlieben anhand von Filmen und literarischen Texten und analysiert Konzepte vom Homo edens, dem essenden Menschen, wie sie von der Ernährungswissenschaft, der Psychoanalyse, Soziologie und Ethnologie vorgelegt wurden. Dabei zeigt sie, dass die Forschungsrichtungen kontrovers über Essen und Ernährungsfragen diskutieren. Psycho­logen und Psychoanalytiker, so die Autorin, werfen den Medizinern oft vor, den Essenden ausschließlich als ein vernunft- und disziplinfähiges Subjekt zu betrachten.

„Die Psychoanalyse kann sich dabei auf Sigmund Freud berufen, der die ersten Esserfahrungen des Kindes als Basis für seine Identitätsentwicklung postuliert.“ Dem Freud-Schüler Karl Abraham zufol­ge bedeutet die Nahrungsverweigerung Hass und Ablehnung gegenüber der Mutter.

Das große Fressen – in der Wohlstandgesellschaft

Dagegen vertraten die Autoren der „Gender Studies“ der 1980er Jahre die These, dass das soziokulturelle Umfeld der wahre Auslöser für essgestörtes Verhalten sei. Diese Tendenz zur Monokausalität sei fragwürdig.

Als ein Beispiel für die Infragestellung unserer Essensmythen analysiert Ott den Ferrerzi-Film Das große Fressen, der entlang vulgärer Sex- und Völlereipassagen die Wohlstandsgesellschaft vorführt.

Eine der schönsten Speiseszenen der Weltliteratur verdankten wir Marcel Proust, der beschrieben habe, welch „unerhörtes Glücksgefühl“ ihm der Genuss eines Sahnetörtchens bescherte.

Hierzulande wird Ott zufolge derzeit ein ungeheurer Gastrokult betrieben. Ihre These: Wenn wir kein Fleisch essen und nur fair gehandelten Kaffee trinken, werde uns so das Gefühl vermittelt, eine unmittelbare Kontrolle auf unseren Körper auszuüben und direkten Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse zu erlangen.

Auch wenn die klassen- und schichtspezifischen Ausprägungen unserer Esskultur unterbelichtet bleiben, so hat Christine Ott doch ein wichtiges und auch für Laien gut lesbares Buch über unsere Esskultur vorgelegt.

Die britische Gastrojournalistin und Foodhistorikerin Bee Wilson behauptet, dass wir unser Essverhalten steuern können. Sie untersucht unsere Vorlieben und Abneigungen bei bestimmten Speisen, fragt nach der Bedeutung von Kindheitserinnerungen und frühen Essprägungen und vergleicht das Essverhalten einzelner Nationen.

Können wir kindliche Prägungen abstellen?

Sobald wir die Tatsache akzeptierten, dass wir unser Essverhalten erlernen, „erkennen wir, dass die Herausforderung nicht etwa in der Verarbeitung von Informationen, sondern in dem Erwerb neuer Essgewohnheiten besteht“. Dabei leugnet sie nicht die Macht der Erinnerung, die unser Essverhalten bestimme, aber sie behauptet, dass es möglich ist, kindliche Prägungen abzustellen. Es scheine ein Zeitfenster in der menschlichen Entwicklung zu geben, in dem Kinder stark auf unterschiedliche Geschmacksrichtungen reagierten. „Als man sieben Monate alten deutschen Kleinkindern im Zuge einer Studie den Gemüsebrei vorsetzte, den sie ganz besonders verabscheuten – Spinat oder grüne Bohnen –, benötigte es nur sieben Versuche, bis sie ihre Abneigung überwanden und das neue Püree ebenso mochten wie ihren ehemaligen Lieblingsbrei aus Karotten.“

Wie es gelingen soll, das Essverhalten der Erwachsenen umzupolen, das kann uns die Autorin nicht schlüssig erklären, es sei denn, man nimmt ihren Bericht über das Essverhalten der Japaner als Hinweis. Dort haben nur 3,3 Prozent der Bevölkerung zu viel auf den Rippen, wohingegen 33,9 Prozent der Amerikaner übergewichtig sind. 2008 sei dort ein Gesetz erlassen worden, „dass Unternehmen mit einer Geldstrafe belegt werden können, wenn zu viele Mitarbeiter einen gewissen Taillenumfang überschreiten“.

Dem Buch von Wilson fehlt der rote Faden, und wie wir das Essen lernen, wird leider nicht deutlich. Dass in einem Nachwort 30 Tricks und Verhaltenstipps angefügt werden, die den Weg zum Idealgewicht ebnen könnten, zeigt, dass entweder das Buchlektorat oder die Autorin selbst diesen Mangel erkannt haben.

Schlanke Menschen leben nicht länger

Das Buch des Ernährungsmediziners Hans Konrad Biesalski zielt dagegen konkret auf das Verständnis unserer Ernährungsgewohnheiten. Gestrafft und nachvollziehbar referiert er wissenschaftliche Erkenntnisse, die unsere Ernährung, die genetische Ausstattung und unseren Lebensstil betreffen. Wir erfahren, was unsere Vorfahren uns vererbt haben, was Hungermacher und Appetitbremsen sind und welche Rolle das Gehirn, die Hormone, aber auch die Nährstoffe spielen. Der Autor ist ein Mythenzertrümmerer, widerlegt auch Legenden der eigenen Zunft, wenn er etwa behauptet, dass Schlanke nicht länger leben als Übergewichtige und genauso häufig von Stoffwechselkrankheiten betroffen sind.

Er ist der Meinung, dass wir unser Essverhalten ändern können, wenn wir unsere „Ernährungsbiografie“ besser verstünden und somit auch beeinflussen könnten. Natürlich hätten wir eine uralte genetische Grundausstattung, die auch heute noch wirksam sei. Wäre unser Genom jedoch völlig unflexibel, so wären wir längst ausgestorben. Bevor wir aber mit Korrekturen an unserer Ernährung und dem Lebensstil beginnen, sollten wir uns fragen, ob das dringlich ist und nicht Falschinformationen oder fragwürdigen Schönheitsidealen geschuldet ist. Abnehmen im Alter zum Beispiel sei sehr fragwürdig, erhöhe bei moderat Übergewichtigen sogar das Sterblichkeitsrisiko, wie großangelegte Studien über lange Zeiträume zeigten.

Warum essen wir, was wir essen? „Weil Essen für den Menschen das zentrale Mittel der Selbstvergewisserung ist“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Kann man essen lernen? „Ja“, meint die Gastrojournalistin, „wir können unsere Essgewohnheiten ändern, Essen ist kein Schicksal.“ Und der Ernährungsmediziner fügt hinzu: vorausgesetzt, dass wir unsere „Ernährungsbiografie verstehen lernen“.

Christine Ott: Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur. S. Fischer, Frankfurt am Main. 2017, 493 S., € 26,–

Bee Wilson: Essen lernen. Wo unsere Ernährungsgewohnheiten herkommen und wie wir sie ändern können. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2017, 479 S., € 17,95

Hans Konrad Biesalski: Unsere Ernährungsbiografie. Wer sie kennt, lebt gesünder. Knaus, München 2017, 247 S., € 19,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2018: Heilkraft Meditation
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