Scharfer Druck, hochschießender Schmerz

Leben mit Migräne: Zwei Bücher ergänzen und überschneiden sich bei der eindringlichen Schilderung von Anamnese, Anfällen und Einschränkungen.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 2/2025 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen aus der Februarausgabe 2025. © Psychologie Heute

Im 19. Jahrhundert war der Hut unverzichtbarer Bestandteil der Herrengarderobe, ja noch bis weit in die Mitte des folgenden Jahrhunderts galt der Mann als unvollständig bekleidet, ging er ohne eine Kopfbedeckung auf die Straße. Doch selbst für seine Zeitgenossen war der Opernkomponist Richard Wagner (1813 bis 1883) ungewöhnlich. Denn er trug ein samtenes Barett – auch im Hausinneren. Nicht winters als Schutz gegen Kälte oder sommers zur Kühlung. Er setzte es sich präventiv auf. Denn er wollte seinen hartnäckig auftretenden, pochenden Kopfschmerzen vorbeugen. Der Freundin Cäcilie Avenarius, die ebenfalls unter Migräne litt, schrieb Wagner: „Dir brummt der Kopf, du kannst dich nicht zurechtfinden, bist wie im Traume und alles flimmert dir vor den Augen? Ganz recht, das kennen wir aus Erfahrung sehr gut.“

Ein Werk, den Siegfried, brach er, weil Migräneanfälle ihn so sehr einschränkten, im September 1856 jäh ab, mitten im zweiten Akt. Er benötigte acht Jahre, um die Arbeit daran neuerlich aufzunehmen. Auch Franz Kafka litt an Migräne, die er in seinen Tagebüchern in gewohnter sprachlicher Hyperpräzision in Sätze goss. Da war die Rede von „hochschießendem Schmerz“ über der Nasenwurzel, von „scharfem Druck“ und von unerträglicher Pein, die sich anfühle, als würden „dünne Scheiben aus meinem Gehirn“ geschnitten.

Sigmund Freud litt ebenfalls an Migräne und tauschte sich mit dem sensiblen Salzburger Schriftsteller Stefan Zweig darüber aus. Der Wiener Arzt schlug aber Tablettenbehandlung aus. Freuds Begründung: „Ich ziehe es vor, bei Qualen klar zu denken und lieber zu leiden.“

Anflüge von Hoffnung und Schmerznebeln

Auch Celia Svedhem, eine 1984 in Schweden geborene Psychotherapeutin, beschreibt die zermürbenden Schmerzen eines Migräneanfalls: Sie erwacht eines Morgens – mit dieser Szene setzt ihr Buch ein – und in ihrem Kopf hämmert es unablässig. Als sie ihren kleinen Sohn hochhebt, rast stark metallische Übelkeit durch ihren ganzen Körper. Später am Tag, während Therapiegesprächen, steht sie kurz vor dem Kollaps, kann nicht mehr geordnet denken, der Magen revoltiert endgültig. Ohne dass aber die Migräne, das Zwingeisen, das sich um ihren Schädel gelegt hat, verschwindet. Dabei wurden ihr bereits starke Medikamente verschrieben.

Der dunkle Raum ist ein eindringlicher Selbsterfahrungsbericht. Svedhem war 16, als erstmals heftige Kopfschmerzen bei ihr auftraten. Wenig später stellten sich Anfälle ein, relativ regelmäßig, aber unvorhersehbar. Aufgrund einer MRT-Untersuchung diagnostizierte ihr Arzt schließlich damals bei ihr Migräne.

Migräne ist keine neurologische Rarität. Für Schweden nennt Svedhem die Zahl von etwa einer halben Million Betroffenen – und das bei einer Gesamtbevölkerung von 10,5 Millionen Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation stuft Migräne als eine jener Krankheiten ein, die die Patientinnen und Patienten mit am stärksten einschränken, physisch wie psychisch. Nicht wenigen von Migräne Betroffenen bleibt nichts anderes übrig, als sich – um Reize und das Auftreten von Auren zu minimieren – in abgedunkelte Räume zurückzuziehen und den Anfall körperlich inaktiv durchzustehen. Und zu hoffen, dass ihnen zugängliche oder verschriebene Medikamente, von Ibuprofen bis zu Triptanen, die Schmerzen abklingen lassen.

Svedhem schreibt aus zwei sich klug verschränkenden Perspektiven heraus: der der Betroffenen und der einer die Forschung recherchierenden Psychoanalytikerin. Das macht ihr Buch erhellend. Sie berichtet lebendig von Arztgesprächen, Anflügen von Hoffnung und von Schmerznebeln, von Placebos und Pharmakologischem. Die Autorin schildert auch einst angewandte historische Behandlungsmethoden, woraus sich für sie ergibt, dass in früheren Jahrhunderten Krankheit und Schmerz viel stärker als „natürlicher Teil des Lebens“ eingestuft wurden und dass sich erst ab etwa 1900 der Wunsch der Menschen immer stärker durchsetzte, Schmerzen zu vermeiden.

Der Glückreduktion entgegenwirken

Auch die Schweizer Journalistin Praxedis Kaspar-Schmid leidet seit Jugendjahren an immer wiederkehrender Migräne. Nun hat sie mit dem Neurologen Andreas Gantenbein, sechs Jahre lang Chefarzt für Neurologie und Neurorehabilitation in Bad Zurzach, ein handliches, schmales, inhaltlich informatives Buch geschrieben. Das liest sich gut, nicht nur weil es grafisch abwechslungsreich gestaltet ist, sondern weil der 50 Seiten umfassende aufwühlende „Erfahrungsbericht“ Kaspar-Schmids über mehr als 60 Jahre Leben mit massiven Migräneattacken ergänzt wird durch einen Dialog. Gantenbein stellt ihr fünfzehn Fragen, sie ihm sechzehn. Das ist interessant, weil sie schildert, wie sie einst mit ihren Schmerzen umging und wie sie sich und ihr Verhalten änderte. Und weil er schildert, was er sich von künftiger medizinischer Forschung erwartet.

Empfohlen wird der Austausch mit anderen episodisch oder chronisch von Migräne Heimgesuchten und noch mehr, sich der Reduktion von Lebensglück und -freude proaktiv entgegenzustellen – für Celia Svedhem selbst war es die rationale Auseinandersetzung qua Nachdenken und Schreiben.

Praxedis Kaspar-Schmid, Andreas R. Gantenbein: ­Leben mit Migräne. Erfahrungen und Ratschläge einer Patientin und ihres Neurologen. Kohlhammer 2024, 100 S., € 22,–

Celia Svedhem: Der dunkle Raum. Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Kunstmann 2024, 184 S., € 22,–

Artikel zum Thema
Psychologie nach Zahlen: Störende, eingebildete oder eigenmächtige Glieder? Wie seltsam! Fünf erstaunliche Verzerrungen unseres Körpererlebens
Die Elektro­therapie erlebt einen Boom. Depressionen, Psychosen oder chronischer Schmerz sollen damit therapiert werden. Doch das birgt Risiken.
Wer die eigenen Emotionen gut erkennt und verarbeitet, zeigt eine flexible Herzrate. Das ist gut für unsere Gesundheit, so eine Studie.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2025: Stürmische Zeiten - stabiles Ich
Anzeige
Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen