Postdentale Depression

Depressiv nach dem Zahnarztbesuch? Edward Bullmores Buch zeigt, wie Entzündungen im Körper psychische Störungen verursachen können.

Lösen Impfungen oder aufwendige Zahnwurzelbehandlungen Depressionen aus? Laut Edward Bullmore können sie es – und der englische Neuropsychiater bringt ziemlich gute Argumente dafür.

Die alte Füllung war porös geworden, und so musste die Zahnärztin das Loch bis in die Zahnwurzelspitze aufbohren. Der Patient überstand alles mehr oder weniger schad- und klaglos, doch am nächsten Morgen fehlte ihm jeglicher Antrieb, er zog sich zurück und morbide Gedanken betrübten ihn. Ein klarer Fall von „Wurzelkanal-Blues“ oder auch „postdentaler Depression“.

Entzündungsbotenstoffe überwinden die Blut-Hirn-Schranke

Es ist neben einer Rheumapatientin die eigene Zahnwurzelbehandlung, die Edward Bullmore als Running Gag für sein Buch Die entzündete Seele wählt. Und er weiß dabei nicht nur mit anschaulichen Schlagwörtern zu glänzen. Es gelingt ihm anhand dieser persönlichen Beispiele auch, die Schlüsselfragen seines Spezialfachgebiets, der Immunpsychiatrie, abzuarbeiten. So wird erklärt, wie es den Entzündungsbotenstoffen aus erkrankten Gewebeteilen gelingt, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, die ja vielen Medizinern, wie Bullmore spottet, immer noch als unüberwindliche „Berliner Mauer“ gilt. Und wie dann auch im Gehirn eine Entzündung ausgelöst wird, die sich aber nicht – wie man es von einer Entzündung erwarten dürfte – durch manie­artige „Heißblütigkeiten“ zeigt, sondern vielmehr durch deren Gegenentwurf: Trübsinn und Antriebslosigkeit.

Selbst der evolutionäre Sinn dieser Reaktionen wird anhand des Wurzelkanal-Blues beleuchtet: Dass es nämlich für uns im Falle einer schweren Entzündung besser ist, uns zurückzuziehen, um unseren gestressten Körper vor Überlastung zu schützen. „Dieses genetisch-evolutionäre Erbe könnte mir geholfen haben, mich von der leicht traumatischen Erfahrung der Wurzelbehandlung zu erholen und für die nötige Bettruhe und den Erhalt meiner Energien gesorgt zu haben“, vermutet Bullmore. Dass er freilich bei solchen Sätzen auf den Konjunktiv setzt, hat wohl eher etwas mit rhetorischer Strategie zu tun als mit ernst gemeinter Vorsicht im Argumentieren. Denn der Cambridge-Professor weiß seine Thesen durchaus mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern.

Kinder mit Entzündungen hatten später häufiger Depressionen

So zitiert er eine englische Studie, in der Kinder, die unter einer langwierigen Entzündung litten, zehn Jahre später signifikant häufiger depressiv wurden. Und als man junge Probanden gegen Typhus impfte, stieg mit ihren Entzündungswerten im Blut ebenfalls – wenn auch nur vorübergehend – ihr Risiko für eine Depression.

„Die Wissenschaft der Immunpsychiatrie hat inzwischen einen Reifegrad erreicht“, resümiert Bullmore, „der bei der Beantwortung der Frage helfen kann, warum nach dem Zahnarztbesuch eine mir vollkommen neue und logischerweise nahtlos erfolgende depressive Verstimmung auftrat.“ Nichtsdestoweniger ist seine Grundthese, wonach die psychische Gesundheit mit dem Entzündungsgeschehen in unserem Körper korreliert, offenbar nicht so ergiebig, dass sie sein Buch komplett tragen könnte. Denn er spickt es mit diversen Ausflügen in die Geistes- und Medizingeschichte – von Descartes über den Botaniker Hans Sloane bis zu Sigmund Freud, der als „Super-Seelenklempner“ hauptverantwortlich dafür gemacht wird, dass sich die Therapie psychischer Störungen zu stark auf psychotherapeutische Methoden fokussiert habe. Bullmore zeigt auch hier seine spitzzüngige Erzählkunst – doch Psychotherapeuten wird er damit wohl eher abschrecken, sich näher mit seinem immunpsychiatrischen Ansatz zu beschäftigen. Dabei hätte dieser durchaus Aufmerksamkeit verdient. Und zwar als Alternative zur pharmazeutischen Behandlung von Depressionen, die mit ihrer Ausrichtung auf die Hirnbotenstoffe oft nur mäßige Erfolge erzielt. Bullmore zeigt gerade in den letzten Kapiteln eindrucksvoll, wie eine entzündungshemmende Therapie – sei es durch Diäten, mehr Schlaf und Bewegung, Antizytokine (Rheumamedikamente) oder auch Aspirin – gerade bei Burnout und anderen Depressionen infolge von Stress und Erschöpfung hilfreich sein könnte. In diesen Abschnitten wird er dann doch zu einem überzeugenden oder zumindest nachdenklich stimmenden Visionär für eine neue Psychiatrie.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst
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