Wenn er nicht so ist, wie sie ihn braucht

Therapiestunde: Warum der Versuch, Intimität herzustellen, manchmal das Gegenteil bewirkt, zeigt Paartherapeutin Angelika Eck.

Ein Mann und eine Frau sind jeweils unter einer Glasglocke, während sie ihn missbilligend anschaut und er unsicher zurücksieht
© Michel Streich

Charlotte und Martin kommen zu ihrer 15. Paartherapiesitzung. Ich blicke in mürbe Gesichter. Was beschäftigt die beiden? Meine Zusammenarbeit mit dem Paar begann anderthalb Jahre zuvor in einer akuten Krise. Anlass dafür war eine drei Jahre andauernde geheime Parallelbeziehung von Martin mit einer Kollegin namens Claudia gewesen, die Martin beendet und kurz darauf Charlotte gestanden hatte. Die beiden kamen im Schockzustand zu mir. Charlotte lernte ich als Häuflein Elend kennen, Martin als zerknirschten, sich schämenden Mann, der die Wucht seines Geständnisses unterschätzt hatte.

Die Beziehung stand auf dem Spiel. Im Rahmen der Therapie haben beide Partner sich bislang tapfer vorangearbeitet, was im Wesentlichen hieß: die Stresssymptome – Schlaf- und Appetitlosigkeit – und Emotionen der akuten Krise durchzustehen und keine übereilten Entscheidungen zu treffen. Die Angst auszuhalten, dass das aufgebaute Leben mit den zwei Kindern zerbrechen würde. Char­lotte stand vor der Herausforderung, die fundamentale Erschütterung jeglichen Vertrauens zu ertragen. Für Martin ging es darum, die innere Zerrissenheit und die Scham für sein Verhalten auf sich zu nehmen.

Dann kam die Phase der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, die therapeutisch oft herausfordernd ist, weil zwei Perspektiven zugleich aufrechterhalten werden wollen: was die Parallelbeziehung Charlotte angetan und was sie Martin bedeutet hatte. Die beiden führten nächtelange Auseinandersetzungen, in denen Charlotte wieder und wieder Details der Beziehung mit Claudia erfragte, in der Hoffnung, es begreifen zu können. Martin, von Haus aus kein Mann der vielen Worte, bemühte sich um ehrliche Auskunft, kam aber immer wieder an Grenzen, wenn Charlotte ihn nachts weckte und weiter befragte. Klare Verabredungen für Zeiten der Auseinandersetzung und Zeiten der Ruhe brachten eine von beiden hilfreich erlebte Struktur in ihren Prozess.

Alles getan, gefühlt, gesagt

Martin ließ Charlottes Schmerz über den Loyalitätsverrat an sich heran. Er traute sich sogar, in der Therapie zu benennen, was seine Motive und wertvollen Erfahrungen in der Beziehung mit Claudia gewesen waren. Von ihr hatte er sich bedingungslos angenommen erlebt und mit ihr leicht wie ein Vogel. Beides hatte ihn enorm genährt in einer Phase voller beruflicher Herausforderungen und Streitigkeiten mit seiner Frau. Dies zu vernehmen tat Charlotte zwar weh, aber Martin gewann dadurch mehr Kontur und wurde für sie wieder greifbarer. Allmählich fasste sie wieder Vertrauen. Nicht in die Treue ihres Mannes – davon riet ich ihr auch klar ab, hatte sie doch erst vor kurzem erfahren, dass er zum Fremdgehen fähig war –, aber Vertrauen in seine jetzige Aufrichtigkeit und sein Festhalten an ihrer Beziehung. Martin atmete auf.

Heute eröffnet Martin unsere Sitzung mit bitteren Worten: „Ich habe das Gefühl, alles getan, gefühlt und gesagt zu haben, damit es Charlotte und uns besser geht, aber ihre Rage kennt kein Ende, auch nach all den Monaten und all der Klärung und allen Tränen nicht. Ihre Bezichtigungen gehen dermaßen unter die Gürtellinie. Ich weiß nicht, wie es hier noch weitergehen soll.“ Auch Charlotte gerät in diesem Moment sichtlich in Wut: „Erstens mauerst du wie eh und je, seit ich dich kenne. Du hast beschlossen, jetzt alles gesagt zu haben, und ich soll mit den Eiern, die du mir gelegt hast, die ich nicht bestellt habe und die mein ganzes Leben verändert haben, auf einmal allein umgehen. Das ist ungerecht. Ich bin diejenige, die das Recht hat zu bestimmen, wann es genug ist.“

„Die Eier, die du mir gelegt hast“

Diese Phase ist an sich nicht ungewöhnlich: Der betrogene Partner braucht die Auseinandersetzung oft länger als der Partner, der fremdgegangen ist, dies für sich abgeschlossen hat und nun die Energien mehr auf die Zukunft richten möchte. Die Intensität von Charlottes und Martins Dynamik ist jedoch besonders. Was steckt dahinter? Die beiden geraten in der Krisenverarbeitung in einen Teufelskreis, der so alt ist wie die Beziehung selbst: Martin im Rückzug – Charlotte in der Verfolgung. Je mehr er sich zurückzieht, desto lauter wird ihre Kritik. Und desto weiter geht er weg. Beide litten bereits jahrzehntelang unter diesen Eskalationen, die ausweglos erscheinen.

„Wieso bricht dieses Muster gerade jetzt, wo vieles sich geklärt hat und Sie einander so nahegekommen zu sein scheinen, wieder so auf?“, frage ich das Paar mit langsamem Duktus, der zur Beruhigung und zum Nachdenken einladen soll. Charlotte antwortet klug: „Vielleicht habe ich mir gewünscht, dass wir aus der Krise anders hervorgehen könnten. In der ersten Zeit hat Martin sich mir so geöffnet wie noch nie zuvor. Ich glaube, ich fürchte, dass diese Intensität wieder verlorengeht, er wieder hinter der Mauer verschwindet und ich mich wieder allein fühle wie viele Jahre lang. Und es dann wieder passieren könnte, dass er fremdgeht.“ „Hm. Das macht Sinn. Traurig ist nur, dass der Versuch, diese Intensität herzustellen, im Moment das Gegenteil be­wirkt…“, antworte ich. „Ja, das weiß ich, aber es fällt mir sehr schwer, das zu lassen. Vielleicht habe ich auch Angst, dass, wenn ich das Schwert sinken lasse, herauskommt, dass zu viel kaputt ist oder es doch nicht passt zwischen uns. Nach dem Motto: Solange sie sich die Köpfe einschlagen, sind sie noch verbunden.“

Charlottes lautes Nachdenken begrüße ich sehr und vertiefe es behutsam: „Also liegen unter Ihrer Wut vielleicht andere Gefühle, die umso schwerer auszuhalten sein könnten: Trauer um das, was kaputtgegangen sein könnte, und Angst, dass die Beziehung nicht weiter lebbar wäre… Und ihm das zu zeigen wäre sehr verletzlich, oder?“ Ich unterstütze Charlotte, das Martin direkt zu sagen. Er hört es und es kommt bei ihm an. Er reagiert weicher, macht aber auch klar, dass er dieses Muster für so stark hält, dass er nicht an eine schnelle Veränderung glaubt. Er will bleiben, aber nicht so.

Der tiefe Zweifel am eigenen Wert

An dieser Stelle nimmt die Therapie eine interessante Wendung: Charlotte spürt, dass sie ihr eigenes Reaktionsmuster verstehen und verändern möchte. Sie hält inne und ändert ihre Perspektive. Ja, Martin hat ihr das eingebrockt. Aber sie wittert die Chance, anlässlich dieser Krise mit sich selbst ganz eigenverantwortlich an einem Punkt weiterzukommen, den sie ihr Leben lang vermieden hat.

Ab dieser Sitzung werden wir zusätzlich zur Paartherapie in Einzelgesprächen miteinander weiterarbeiten. Charlotte wird weiter unter den Rückzugstendenzen ihres Mannes leiden. Stück für Stück wird sie der Frage nachgehen, warum sie habituell so rasch wütend reagiert, und sich zu einem Kernthema durcharbeiten: ihrem ganz tiefen Zweifel daran, dass ihr Wert als Person da ist und ihr von ihren Liebsten zugesprochen wird, ohne dass sie dafür kämpfen muss. Diesen ganz tief verborgenen, seit ihrer Kindheit bestehenden Zweifel samt der Scham mir gegenüber zu äußern wird eine neue Erfahrung darstellen, die den Anfang vieler hilfreicher Prozesse bildet: Charlotte wird lernen, das Bedürfnis nach Wertschätzung in sich zu spüren und gleichzeitig die Reflexe, mit denen sie diese Sorge, nicht gesehen zu werden, zu schützen sucht, zu beobachten und weniger von ihnen beherrscht zu sein.

Sie wird sich darin üben, nicht mehr so stark auf ihren Mann zu reagieren, sondern zu sehen: So war er immer, so ist er, so wird er im Trend auch bleiben. Sie wird in der Folge immer noch an dem alten Mangel leiden. Aber sie wird klarer spüren, wie gern Martin auf seine Art mit ihr zusammen ist und wie wichtig sie ihm ist. Sie wird lernen, sich selbst Wert und Halt zu geben, wenn er nicht so ist, wie sie ihn braucht. Kurzzeitig wird sie an dem Punkt zaudern, an dem sie spürt: Ich kann mittlerweile so gut für mich selbst sorgen, dass ich jetzt auch allein weitergehen könnte. Jetzt könnte ich es. Soll ich mich trennen? Ich werde sie dazu beglückwünschen, dass sie jetzt offenbar endlich die Wahl zu haben scheint. Jetzt erst wird sie sich für oder gegen ihren Mann entscheiden können. Sie wird sich für ihn entscheiden, den Mann, den sie liebt.

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Angelika Eck ist promovierte Diplompsychologin und systemische Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis. Ihr Buch Sexuelle Fantasien in der Therapie erschien 2020 bei Vandenhoeck & Ruprecht. Unter lifelessons.de ist ihre praktische therapeutische Arbeit zu sehen

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