Mindestens jeder zehnte erwachsene Mensch leidet unter starken chronischen Rückenschmerzen. Die medizinischen Ursachen sind vielfältig. Doch auch psychische Faktoren tragen dazu bei, ob die Schmerzen mit der Zeit stärker werden oder abklingen. Die medizinische Psychologin Monika Hasenbring, Professorin an der Universität Bochum, hat in klinischen Interviews immer wieder festgestellt, dass Schmerzpatienten sich in ihren Erlebens- und Reaktionsmustern deutlich unterscheiden. Dem ging sie mit ihren Teams in großen Studien nach. Vier Muster im Umgang mit den Schmerzen kristallisierten sich dabei heraus, wie Hasenbring jetzt berichtet. Meist dominiert bei einem Patienten eines dieser Muster, aber sie können auch durchmischt sein und im Lauf einer Schmerzkarriere wechseln.
1 Ängstliches Meiden
Der Schmerz wird hier als extrem bedrohlich wahrgenommen – „bis hin zu dem Gefühl, dass einem der Rücken durchbricht“, wie Monika Hasenbring im Gespräch erläutert. Stark verängstigt, schalten die Patienten auf extremes Vermeidungsverhalten: Wenn irgendwie möglich verharren sie in einer schmerzarmen Position, bevorzugt liegend.
Die Psychologin erinnert sich an einen 45-jährigen Lkw-Fahrer, der sie in ihrer Schmerzsprechstunde aufsuchte. Nach einem Bandscheibenvorfall war er operiert worden und war danach zwei Jahre lang überwiegend schmerzfrei gewesen. „Doch dann fing es mit leichten Schmerzen an, die ganz allmählich chronisch wurden.“ Wohl in Erinnerung an die früheren Qualen tat der Mann alles, um dem Schmerz aus dem Weg zu gehen. „Er hatte einen sogenannten Bandscheibengang, also leicht nach vorn gebeugt, in einem relativ schmerzfreien Winkel. Auf Dauer ist diese Haltung Gift für die Wirbelsäule.“ Er war krankgeschrieben, lag viel auf dem Sofa, ging kaum mehr unter die Leute – aus Angst, dort lange stehen oder sitzen zu müssen. Auch das Fußballspielen mit Freunden gab er auf.
Langfristig zementiert gerade die Schonung den Schmerz, denn die Muskulatur bildet sich zurück und versteift. Auch das Vermeiden sozialer Kontakte sei schädlich, sagt Hasenbring. In Gesellschaft kommt man auf andere Gedanken, während man zu Hause viel Gelegenheit zum Grübeln hat. Das zieht herunter. „Und eine depressive Stimmungslage macht wiederum schmerzempfindlicher“, sagt Hasenbring, „da gibt es biochemische Zusammenhänge.“ Ein Teufelskreis.
2 Unterdrücken um jeden Preis
Diese Menschen praktizieren die gegenteilige Strategie. Sie beißen die Zähne zusammen und treten nicht kürzer, auch wenn es höllisch wehtut.
So wie die Altenpflegerin, die ebenfalls bei der Schmerzpsychologin Rat suchte: Trotz starker Rückenschmerzen wuchtete sie weiter ihre Patienten umher, gönnte sich kein Durchatmen. Stattdessen versuchte sie nach Kräften, den Schmerz aus ihrem Bewusstsein zu drängen: „Einfach nicht dran denken, stell dich nicht so an!“ – das war ihr Motto.
Dem Schmerz keine Beachtung schenken: Tatsächlich wurde dies in verhaltenstherapeutischen Trainings lange propagiert und eingeübt. Hasenbring hält das in dieser Rigorosität für falsch. „Wir sind überzeugt, dass selbst der chronische Schmerz noch immer einen Signalcharakter hat“, sagt die Medizinpsychologin. Schmerz warnt vor Überlastung – und manchmal eben auch vor einer ständigen Überlastung. Die maximale Kraftanstrengung beim Wenden eines Pflegepatienten ist eben keineswegs harmlos. Das kompromisslose Schmerzunterdrücken ist noch aus einem anderen Grund nicht ratsam: Es schlägt massiv auf die Stimmung, macht gereizt und niedergeschlagen bis hin zur Depression.
3 Ablenken und Durchhalten
Auch diese Patienten versuchen, ihren Schmerz zu ignorieren. Was sie aber von den Unterdrückern unterscheidet, ist vor allem ihre ausgesprochen positive Stimmungslage. Oft seien das sehr humorvolle Menschen, sagt Hasenbring. Sie sind viel in Gesellschaft, unternehmen etwas Unterhaltsames. Sie lenken sich ab.
Klingt nach einer guten Strategie, doch leider kommt es auch in dieser Gruppe mit der Zeit oft zu einer Verschlimmerung der Schmerzen. Fatalerweise könnte das damit zusammenhängen, dass es oft ihre schmerzverursachende Tätigkeit selbst ist, die diese Patienten ablenkt. Leistungssportler etwa sind gute Ablenker. Sie gehen so in ihrem Sport auf, „dass sie die Schmerzen kaum wahrnehmen“, so Hasenbring. Auch wer im Flow am PC arbeitet, registriert seine verspannte Haltung kaum.
Fallbeispiel: ein Mann Anfang fünfzig. In seinem erfolgreichen Architekturbüro war er Feuer und Flamme für seine Projekte und wenn die Deadline nahte oder wieder mal eine Auszeichnung in einem Wettbewerb winkte, dann war er so konzentriert bei der Sache, dass er seine Schmerzen gar nicht bemerkte. Sie meldeten sich dann erst zeitversetzt zu Hause. „Abends, wenn er zur Ruhe kam, ging der Schmerz von null auf zehn.“
4 Flexible Balance von Kraft und Rast
Nur den Patienten dieser Gruppe gelingt es, ihre Schmerzen mit der Zeit zu reduzieren. Dabei ist ihre Stimmung nicht annähernd so euphorisch wie die der Ablenker. Vielleicht ist gerade das die Voraussetzung dafür, dass sie den Schmerz nicht ausblenden, aber auch nicht dramatisieren. Irgendwie gelingt es ihnen, ein mittleres Maß zwischen Schonen und Durchhalten zu finden. Sie nehmen den Schmerz nicht als Bedrohung wahr, sondern als Signal – und reagieren bei einer Fehlhaltung mit Dehn- und Kräftigungsübungen und bei einer Überlastung, indem sie kürzertreten.
„Wenn sie einen Schub von starken Schmerzen haben, dann bleiben sie auch mal einen Tag zu Hause“, so Hasenbring. Doch sie liegen dann nicht nur auf der Couch. „Sie nutzen den freien Tag aber auch nicht nach Art der Ablenker, um die Terrasse zu pflastern. Stattdessen machen sie Bewegungsübungen, um ihrem Rücken etwas Gutes zu tun, und entspannen dazwischen bei einer Tasse Kaffee.“
Solche Übungen eignete sich besagte Altenpflegerin an. Und sie lernte, auf ihren Schmerz zu achten. Bei der Arbeit überwand sie ihr schlechtes Gewissen gegenüber den Kollegen und gönnte sich mehr Pausen. Der Rücken dankte es ihr.