Ernährung, Fitness, Schlaf, Stressabbau – die großen Gesundheitskampagnen der letzten Jahrzehnte haben viele Millionen Menschen zu gesünderen Lebensgewohnheiten animiert. Wissenschaftler, Journalisten und Ärzte konnten die breite Öffentlichkeit für die Gesundheitsrisiken moderner Lebensweisen sensibilisieren.
Die gefährlichste aller Zivilisationskrankheiten haben wir dabei jedoch schändlich vernachlässigt, meint der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer. In seinem wissenschaftlich fundierten und faszinierenden Buch Einsamkeit legt er überzeugend dar, dass sich der Mangel an Gemeinschaft verheerend auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirkt. Er befürchtet, dass die reichen Industriegesellschaften von einer Einsamkeitsepidemie großen Ausmaßes heimgesucht werden. Seine düstere Diagnose begründet er mit einer beachtlichen Menge an Forschungsbefunden aus verschiedenen Wissenschaftszweigen.
Spitzer unterstreicht, dass Alleinsein heilsam sein kann, insbesondere wenn wir uns in die Natur zurückziehen. Lang andauernde Einsamkeit betrachtet er jedoch als ansteckende Krankheit, die mit erheblichen Schmerzen und chronischem Stress verbunden ist.
Für unsere Vorfahren war Isolation lebensbedrohlich
Laboruntersuchungen zeigen, dass ein Foto des Partners die Schmerzen von Probanden lindert. Schmerzen und Einsamkeit gehen mit der Aktivierung des gleichen Hirnareals einher. Außerdem belegen Experimente, dass Probanden mit wenig sozialer Unterstützung auf belastende Situationen mit mehr Stress reagieren. Spitzers evolutionstheoretische Begründung: Für unsere Vorfahren sei jede Art von Isolation vom Stammesverband lebensbedrohlich gewesen. Der Einsamkeitsschmerz habe das abgesonderte Individuum zurück in die Gemeinschaft getrieben. Der Stress habe die Bewältigung der Gefahrensituation erleichtert.
Spitzers eingehende Analysen von hochwertigen Studien zu den Gesundheitsfolgen der Vereinzelung sind überzeugend. Chronische Einsamkeit erhöht das Erkrankungsrisiko für die wichtigsten körperlichen und seelischen Leiden: Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Erkältung, Alzheimer, Demenz, Depression, Schizophrenie, Sucht. Komplexen statistischen Untersuchungen zufolge vermindert Einsamkeit die Lebenserwartung stärker als Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht. Seine Schlussfolgerung lautet daher: „Nichts ist gesünder als die aktive Teilnahme an der Gemeinschaft.“
Der Autor hält die zunehmende „Singularisierung“ für einen gefährlichen Megatrend, der sich wie ein roter Faden durch sämtliche Lebensbereiche ziehe. In einer umfassenden Studie verzeichnete die große Mehrheit der untersuchten Länder eine deutliche Zunahme individualistischer Werte und Praktiken während der letzten fünfzig Jahre, die sich größtenteils auf sozioökonomische Faktoren zurückführen ließ. Weitere Studien legen einen starken Anstieg von Egozentrismus, Narzissmus und Materialismus nahe. In Deutschland hat die Zahl der Singlehaushalte und Scheidungen stark zugenommen.
Resultat gesellschaftlicher Veränderungen
Der Wohlstand verringere die Abhängigkeit des Einzelnen von Familie, Freunden, Verwandten und Gemeinschaften. Die liberale Kultur und Pädagogik huldigten der Selbstentfaltung des Individuums. Fernsehen und Internet ersetzten das gesellige Beisammensein. Einer Studie zufolge verdreifacht die häufige Nutzung von sozialen Onlinemedien wie Facebook das Einsamkeitsrisiko.
Was tun? Der Autor belegt, dass Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung gegen Einsamkeit helfen. Bislang sei jedoch unklar, welche gesellschaftlichen Veränderungen die Einsamkeitsepidemie zurückdrängen könnten. Er übersieht, dass die Einsamkeit eine Schattenseite von Modernisierungsprozessen darstellt, die unser aller Leben deutlich verbessert haben.
So beweist der Sozialwissenschaftler Christian Welzel in seinem Buch Freedom Rising, dass Massenwohlstand, Bildung und moderne Medien liberale Kulturnormen fördern, die das Individuum aus den Fängen von autoritären Überlebensgemeinschaften befreien. Die individualistische Kultur bildet die wichtigste Grundlage der liberalen Demokratie. Die Frage ist also, wie wir starke Gemeinschaften bilden, welche die Freiheiten aller Mitglieder achten.
Spitzers bedeutende Warnschrift öffnet uns die Augen für eines der schwerwiegendsten Probleme unserer Zeit.
Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer, München 2018, 317 S., € 19,99