„Ich habe Angst vor Herrn X“

Er soll helfen, aber wer hilft ihm? Ein Sozialarbeiter aus Berlin über die Zusammenarbeit mit schlecht ausgebildetem Personal im Beruf.

Die Collage zeigt einen Mann, der gestresst die Hand an das Gesicht hält
Früher ist er gerne zur Arbeit gegangen. Unqualifizierte Kollegen haben ihm den Spaß am Job genommen. © Luisa Stömer für Psychologie Heute

Jeden Morgen muss ich mich zwingen, zur Arbeit zu gehen. Oft komme ich zu spät. Für eine halbe Stunde Verspätung muss ich mich entschuldigen, bei fünf Minuten sagt keiner was. Viele machen das so.

Als Sozialarbeiter unterstütze ich psychisch kranke Menschen in einem Wohnheim. Die meisten haben mehr als ein Krankheitsbild – etwa Schizophrenie und Depression – und schaffen es kaum, den Alltag zu bewältigen. Ich begleite sie beim Einkaufen oder zu Arztbesuchen, erinnere sie daran, ihr Zimmer zu putzen, und biete zusätzlich Gedächtnistraining und Schreibtraining an. Außerdem kümmere ich mich als stellvertretender Teamleiter unter anderem um Dienstplanung und Terminkoordination.

Quereinsteiger sollen dasselbe arbeiten wie ausgebildete Fachkräfte

Für die Aufgaben in dem Wohnheim sind neun Mitarbeitende angestellt. Der einzige Sozialarbeiter bin ich. Ein Heilerziehungspfleger ist noch dabei, ein Erzieher, die übrigen sind Quereinsteiger. Manche haben als Qualifikation für diese Arbeit nur eine dreimonatige Ausbildung zur Betreuungsassistenz. Trotzdem sollen wir alle dasselbe tun. Die Folgen sehe ich jeden Tag.

Die Arbeit ist nicht fachlich fundiert. Jeder und jede macht das, was er oder sie intuitiv für richtig hält. Oder erledigt die Aufgabe gar nicht. Wenn ich eine Mitarbeiterin bitte, einen Bericht zu schreiben, fragt sie: „Können wir das zusammen machen?“ Also sitzen wir drei Stunden am Schreibtisch und schreiben den Bericht. In dieser Zeit kann ich mich nicht um die Menschen kümmern, die ich betreuen soll. Ich muss meine Einzeltermine verschieben, Gruppentreffen ausfallen lassen. So etwas frustriert mich besonders bei den Mitarbeitenden, die es eigentlich können müssten. Bei den Kolleginnen und Kollegen mit nur dreimonatiger Ausbildung habe ich mehr Verständnis.

Fachkräftemangel: Für Krisensituationen nicht ausgebildet

Vielen Kolleginnen fällt es schwer, sich abzugrenzen. Unsere Bürotür steht immer offen, selbst in den kurzen Pausenzeiten kommen Bewohner herein. Statt sie konsequent wegzuschicken, beginnen sie, mit ihnen zu reden, so dass ständig Unruhe herrscht.

Besonders in Krisensituationen fällt mir die fehlende Ausbildung auf. Manch­mal rastet einer unserer Bewohner aus. Er schreit herum, beleidigt die Mitarbeiter, droht mit Anzeigen. Dann kommen meine Kollegen zu mir und sagen: „Du musst dich kümmern!“ Oder sie schließen sich im Büro ein. Warum? „Ich habe Angst vor Herrn X.“ So etwas zu hören macht mich traurig. Und wütend. Wenn du Angst vor der Klientel hast, bist du falsch in der sozialen Arbeit! So kannst du nicht arbeiten!

Ich verstehe das, sie haben den Umgang mit Krisen nie gelernt. Aber warum stellt der Arbeitgeber Menschen ein, die mit den Aufgaben überfordert sind? Weil er geringqualifizierten Kräften weniger zahlen muss? Für mich bedeutet es mehr Arbeit und das ärgert mich.

Nur die Leitung sieht es nicht

Damit alle die Aufgabe schaffen, bräuchten wir wenigstens eine gute Einarbeitung und regelmäßige Fortbildungen. Aber das geschieht nicht. Unserem Träger gehören viele Einrichtungen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Ich habe den Eindruck: Für uns interessiert er sich nicht.

Alles, was ich vorschlage, wird abgelehnt. Oder so lange verzögert, bis es sich von selbst erledigt hat. Weiterbildung zur Dokumentation? Nein. Workshop zum Teambuilding? Nein. Sonderurlaub für eine eigene Fortbildung? Nein. Nein. Nein. Die Kolleginnen und mich regt das auf. Wir sehen, dass wir Fortbildungen brauchen. Nur die Leitung sieht es nicht.

Natürlich habe ich versucht, die anderen einzuarbeiten, so gut es geht. Aber ich kann kein fehlendes Studium ersetzen. Manches weiß ich selbst nicht. Zum Beispiel gab es vor einem Jahr neue Vorgaben für das Berichtswesen. Wie soll ich die lernen, wenn jede Weiterbildung abgelehnt wird?

Überhaupt, die Dokumentation: Es gibt spezielle PC-Programme dafür, die man aber kaufen muss. Wie oft habe ich danach gefragt! Hat keinen interessiert. Wir haben nicht mal Schreibvorlagen oder Standards. Jeder tippt in einem anderen Design in ein Word-Dokument, druckt es aus und heftet es in die Akte. Mittlerweile gucke ich mir das nicht einmal mehr an, obwohl das meine Aufgabe wäre. Es ist sowieso alles durcheinander und es ändert sich nichts.

Auch an anderen Stellen merke ich, dass ich nachlässiger werde. Bei meinen eigenen Berichten kann ich die Fristen schwer einhalten. Einen Antrag auf Kostenübernahme hätte ich schon letzte Woche zum Bezirksamt schicken müssen. Habe ich aber nicht. Ich hatte wenig Zeit – es waren wieder nur vier von neun Leuten da –, aber vor allem hatte ich keine Lust.

Trotz Fachkräftemangel: schlechte Arbeitsbedingungen, wenig Geld

Als ich vor drei Jahren anfing, war das anders. Ich weiß noch genau, wie wichtig es mir war, dass alles läuft und jede Aufgabe erledigt wird. Ich war motiviert. Mittlerweile denke ich häufig: Ist nicht mein Problem. Ist das Problem des Unternehmens. Sonst bin ich selbst mit Erkältung zur Arbeit gegangen und habe kaum darauf geachtet. Inzwischen denke ich ständig daran, dass ich krank werde oder krank bin.

Der Krankenstand bei uns ist hoch. Fast jeden Tag ist mindestens eine Person nicht da. Die Leiterin unserer Einrichtung fehlt auf den Monat gesehen manchmal die Hälfte der Zeit. Wir wissen nie: Kommt sie am Freitag? Kommt sie nach dem Urlaub? Wahrscheinlich hat sie keinen Bock. Das kann ich nicht beweisen, aber so wirkt es. Als stellvertretender Teamleiter habe ich mich lange zuständig gefühlt und viele ihrer Aufgaben übernommen. Inzwischen mache ich auch das nicht mehr.

Jeden Tag fällt es mir schwerer, zur Arbeit zu gehen. Einige Male bin ich schon zu Hause geblieben, ohne körperlich krank zu sein. Bei uns gibt es eine Sonderregelung: Man darf drei Tage aussetzen, ohne eine Krankschreibung vorlegen zu müssen. Das habe ich genutzt.

Seit Monaten suche ich nach einer neuen Stelle. Bislang vergeblich. Zwar werden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter überall gesucht, aber die Bezahlung ist meist schlecht. Und die Arbeitsbedingungen klingen kaum besser als bei meiner aktuellen Stelle. Wir Sozialarbeitenden werden händeringend gesucht, aber für uns tun die Arbeitgeber wenig.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch, warum Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen besonders schnell in eine Erschöpfung schlittern in Schlecht ausgebildetes Personal.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2025: Ich entscheide, was ich fühle
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