Von mir selbst und meinen Ausbildungskolleginnen weiß ich: Scham beschäftigt uns alle. Ob Scham über Audioaufnahmen von Therapieprozessen, oder Scham über die eigene Überforderung, oder Scham über einen Fall, in dem wir keine Fortschritte sehen. Um über Schamgefühle in der Entwicklung zur Psychotherapeutin zu sprechen, darf eine Person nicht fehlen: mein zaghaftes, jüngeres Ich.
Ich bin vierzehn Jahre alt und stehe vor meiner Schulklasse, um ein Referat über die Französische Revolution zu halten. Meine Karteikarten sind fein säuberlich ausgestaltet, das Plakat habe ich zweimal gemacht, weil es beim ersten Mal zu unordentlich aussah. Den Text kann ich fast auswendig und dass meine Hände schwitzen, sieht zum Glück niemand. „Danke“, sagt die Lehrerin und wendet sich an die Klasse: „Gibt es Fragen?“ Ruhig blicke ich in den Raum, denn wir haben ein abgekartetes System: Die Person, die das Referat hält, verteilt an ihre Freundinnen bereits vorher Fragen, auf die sie die Antwort weiß.
Obwohl ich gerne zur Schule ging, fühlte ich mich dort nie sicher, Fehler zu machen. Eindrücklich erinnere ich mich an einen Lehrer, der uns riet, niemals „ich bin mir nicht sicher“ unseren Antworten voranzustellen, sondern Gewissheit vorzuspielen, um kompetent aufzutreten. Ansonsten würden wir den richtigen Antworten ihre Kraft nehmen.
Während des Studiums waren wir dann sehr gekonnt im Umschiffen eigener Unsicherheiten und Wissenslücken. Die meisten Psychologie-Studierenden sind ziemlich angepasst und ambitioniert. So auch ich. Mit aller Kraft vermieden wir es, etwas nicht zu wissen – und wenn es doch so war, betrat die Scham den Raum.
Die Psychotherapie-Ausbildung war dann ein richtiger Schock für mich. Denn plötzlich galt es, Unwissenheit nicht nur zuzugeben, sondern sogar zu kultivieren. Elegante Sätze wurden nun eingeleitet mit „ich frage mich, ob“ oder „es ist nur eine Hypothese, dass“. Wir sollten unsere offenen Fragen mit in die Supervision bringen und gerade die Fälle besprechen, in denen nicht alles glatt lief. Ein unheimlich verletzlicher Prozess.
Ich geriet in eine „Analyse-Paralyse“, wie eine meiner Dozentinnen es einmal sehr treffend bezeichnete. Nicht nur, weil andere mir zuschauten – sondern weil ich selbst mir zuschaute. Mein Blick auf mich war ein kritischer, der Fehler zu verhindern suchte. Fehler zu machen setzte er mit Scheitern, Punktabzug, Beschämung, Inkompetenz gleich.
Doch Fehler zu vermeiden ist in der Therapie unmöglich. Jedes Gespräch beinhaltet kleine Ungeschicklichkeiten und Missverständnisse – auch wenn es prima läuft. Unsere Unsicherheit ist Zeichen eines reflektierten Blicks auf das, was wir nicht wissen können.
Das zu merken und langsam einen liebevolleren Blick zu entwickeln, veränderte viel. Ich bin zutiefst dankbar für diesen Entwicklungsschritt. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass ich in Sitzungen gehe und lustvoll denke: „Mal schauen, welche interessanten Missgeschicke mir heute passieren.“ Aber ich spüre zunehmend, dass es kein Widerspruch ist, an mich zu glauben und gleichzeitig Fehler zu machen.
Auch diese Kolumne ist Teil meines Weges dorthin: Über meine Unsicherheiten zu sprechen, weil sie mich mit allen Auszubildenden verbinden. Über meine Zweifel zu sprechen, weil sie meine Kompetenz stärken, nicht schwächen. Ich spüre immer öfter, dass es reicht, wenn ich „gut genug“ statt „fehlerlos“ bin. Erst in diesem Gefühl kann ich auch Hilfe annehmen, ohne beschämt zu sein. Eine Perspektive, die für mich und auch für die meisten meiner Patientinnen heilsam ist.
Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und stelle meiner Supervisionsgruppe einen Fall vor. „Ich weiß nicht weiter“, sage ich. „Danke“, sagt die Supervisorin, „Gibt es Fragen?“ Gibt es. Auf die Hälfte kenne ich die Antwort nicht. Ein Anlass zur Hoffnung.


Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.