An kein Praktikum erinnere ich mich so eindrücklich, wie an meine Erfahrungen in der Gerontopsychiatrie. Die Tür der Station war nicht abgeschlossen, sondern durch das gleichzeitige Drücken eines Knopfes und Ziehen an der Tür zu öffnen. Eine praktische Lehre im Konstruktivismus: Für mich war es eine offene Tür, für die Bewohnerinnen und Bewohner eine verschlossene.
Auf der Station gab es viele verschiedene Vorstellungen von der Welt. Manche der Anwesenden teilten mit mir die Überzeugung, dass es Dezember war, für andere war es 1982, für andere wiederum spielte das Konzept von Zeit keine Rolle. Auch ich war eine Gestaltenwandlerin: Manche nannten mich Therapeutin, manche Praktikantin, manche „ein ganz nettes Mädchen“.
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An meinem ersten Tag sprach mich eine sehr alte, gebückt stehende Frau an. Sie lächelte und fragte dann höflichst: „Junge Dame, können Sie mir vielleicht sagen, wie ich hier rauskomme?“ Ich lächelte hilflos zurück und bot ihr einen Kaffee an. Ich war zuständig für die Demenz-Diagnostik und führte verschiedene Tests durch. Ich ließ der Reihe nach Zahlen verbinden, zeigte Bilder von Bäumen, Häusern und Trillerpfeifen, fragte nach dem Namen, der Ausbildung, der Orientierung im Leben.
Ich begann, die Diagnostik zu verabscheuen. Kaum etwas bedroht den Selbstwert eines Menschen mehr, als ein Bild von einer Pfeife zu sehen, aber nicht mehr auf das dazugehörige Wort zu kommen. Oder eine Uhr nicht mehr malen zu können. Oder noch zu wissen, dass man studiert hat, aber einfach nicht mehr zu wissen, welches Fach es war. „Habe ich bestanden?“, fragte mich eine Frau, „halten Sie mich eigentlich für bescheuert?“, entgegnete eine andere.
Am Ende meiner ersten Woche kam ich nach Hause und weinte. Ich hielt die Hilflosigkeit nicht aus. „Ich werde doch Therapeutin, damit die Dinge besser werden, ich arbeite doch dafür, dass Erkrankungen zurückgehen“, klagte ich gegenüber einer Freundin am Telefon, „aber hier kann ich davon ausgehen, dass der geistige Zustand gleichbleibt oder sich verschlechtert. Das halte ich nicht aus“. In seinem Roman „Herkunft“ schreibt Saša Stanišić über seine Großmutter, die zunehmend dement wird. Als er sie fragt, was für ein Tag heute sei, antwortet sie: „Alle Tage.“ Die Frage nach dem Datum ist auch ein Teil der psychologischen Demenzdiagnostik. Als ich einen Patienten fragte, welcher Tag heute sei, antwortete er sichtlich verärgert: „Heute ist überhaupt gar kein Tag!“ Auf poetischer Ebene stimmte ich ihm zu.
Es gab allerdings eine Pflegerin, die ihre Arbeit mit Leichtigkeit zu nehmen schien. Sie kam gern, war herzlich, sie brachte die Menschen zum Essen und zum Sprechen. Sie wandelte leichtfüßig durch ihre Welten. „Ihr Therapeutinnen seid so leistungsorientiert“, sagte sie einmal zu mir, „klar verringern sich die Punkte im Demenztest selten. Aber ob sich der Körper von jemandem Tag für Tag entspannt, ob das Essen wieder klappt, ob am Tisch gelacht wird, zählt das nicht?“
Ich lernte auf dieser Station eine Sicht auf Therapie kennen, die mir bis heute unendlich hilft. Nämlich, dass es nicht immer um einen – wie auch immer – definierten Fortschritt geht. Manchmal sind Dinge im Leben einfach schlimm, ungerecht und schmerzhaft. Manchmal gibt es keine tolle therapeutische Methode oder den ultimativen Ratschlag. Manchmal ist die größte Hilfe, Leid und Widersprüche gemeinsam auszuhalten, ein aufmerksames Gegenüber zu sein, gemeinsam über einen verirrten Marienkäfer am Fensterbrett zu lachen. Manchmal geht es darum, sich selbst nicht als Helferin, sondern als Begleiterin zu sehen. Moment für Moment zu überlegen: Was tut gerade gut? Was hilft? Eine Weisheit, die während meines Praktikums auf der Demenz-Station galt – und auch sonst für „alle Tage“.
Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.