Prophetin in der Psychiatrie

Kolumnistin Tabea Farnbacher erlebt auf einer Bahnfahrt eine intensive Begegnung mit einer Frau, die psychotische Symptome zeigt

Die Illustration zeigt eine Frau, die rechts und links in der Hand eine Walnuss hält
Auf einer Bahnfahrt bekommt Tabea Farnbacher von einer Frau eine Glücks-Walnuss geschenkt © Rosa Viktoria Ahlers für Psychologie Heute

Ich besuche eine Freundin in Ostdeutschland und warte auf die Bahn, die mich zu ihr bringen wird. Gerade will ich meine Kopfhörer aufsetzen, als eine Frau auf mich zukommt. Sie ist in einen wilden Mix aus Farben und Stoffen gehüllt, die meisten ihrer Kleidungsstücke sind schmutzig. Sie trägt viele Ketten, einige davon selbstgebastelt aus Naturmaterialien. Ihr Gesicht ist verwinkelt und verwittert, es trägt wohl viele Geheimnisse. Sie bleibt vor mir stehen.

Die Frau spricht ungeordnet, manchmal brechen ihre Sätze ab und hinterlassen Brücken ins Leere. Die Bahn fährt ein und wir nehmen nebeneinander Platz. Sie riecht unangenehm und hat freundliche Augen. Sie beginnt, mir ihre Theorien über die Welt zu erzählen, die ich nur zur Hälfte verstehe. Ihre Formulierungen hören sich poetisch an. Nach einigen Stationen greift sie in ihre Jackentasche und schenkt mir eine ganze Walnuss, auf der einige Farbkleckse verteilt sind. „Danke“, sage ich, „wofür ist die?“ „Bringt Glück“, erwidert sie.

Sie fragt mich, ob ich schon mal in der Psychiatrie war, was ich bejahe. Sie mustert mich kurz. „Personal oder Patientin?“, fragt sie. „Personal“, sage ich. „Patientin“, erwidert sie und deutet auf sich selbst. Wobei das nur halb wahr sei. Sie sei eine direkte Nachfahrin von Jesus und besuche hin und wieder Psychiatrien, um seine Weisheit weiterzugeben. So auch letzte Woche. Dann habe man ihr allerdings Medikamente verschreiben wollen, woraufhin sie sich selbst entlassen habe. Sie sei schließlich nur gekommen, um andere zu heilen. Unwillkürlich denke ich an die Anti-Psychiatrie-Bewegung in den 60er-Jahren. Sie ging von Patientinnen aus, die trotz, mit und wegen ihrer Symptome ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben führen wollten. Diese gründeten sogenannte Weglaufhäuser, in denen sie Gemeinschaft und Unterstützung fanden. Medikation und Behandlung lehnten sie zu großen Teilen ab.

Der Frau neben mir würde diese Idee vielleicht gefallen. Ich komme aber nicht dazu, ihr davon zu berichten, denn sie legt zwei weitere Walnüsse in meine Hand. Mit Blick auf die drei Nüsse frage ich sie, ob sie das Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ kennt.

„Ich vergesse viel. Vielleicht ja, vielleicht nein.“

„Möchtest du es hören?“

Sie nickt. Ich erzähle es ihr so schön ich kann, während sie andächtig lauscht. Als ich fertig bin, sagt sie: „Schöne Geschichte.“ Dann erzählt sie mir, dass die Zahl drei kraftvoll sei, aber die Zahl vier noch viel mächtiger, da sie für das Kreuz stehe. Die Vier symbolisiere Leid und Kraft zugleich. Sie sei dazu auserkoren, diese Weisheit zu verbreiten. „Schöne Geschichte“, antworte ich. Sie nickt.

Manche psychotischen Vorstellungen sind nicht schmerzhaft, im Gegenteil, sie erhöhen den Selbstwert und werden zu einer Mission. Dennoch machen sie oft einsam. Sie führen zu Unverständnis und Konflikten mit dem sozialen Umfeld.

„Willst du Kinder?“, fragt sie unvermittelt. „Vielleicht“, gebe ich zurück. „Du solltest Kinder haben“, sagt sie, „du hast freundliche Augen.“ Sie drückt mir eine vierte Walnuss in die Hand. „Wieso sind die eigentlich mit grüner Farbe bekleckst?“, frage ich. „Für die Hoffnung“, erwidert sie. Dann muss ich aussteigen. Wir sagen uns, dass es schön war, einander kennenzulernen – und meinen es auch so. Beschwingt verlasse ich den Bahnsteig. Ich trage die Nüsse noch den ganzen Tag bei mir.

Als Therapeutin hätte ich sie vielleicht gebeten, mir mehr zu ihrer Vorstellung über die Welt zu erzählen. Ich hätte versucht, diese ganz genau zu verstehen, Lücken zu finden, über die wir sprechen können und ich hätte ihr wohl meine Sicht auf die Welt angeboten. Das Ziel hätte ich mit dem Gesundheitssystem geteilt: Ihr sogenanntes Wahnsystem zu reduzieren und wieder eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen.

Jetzt denke ich: Während dieser Bahnfahrt hatten die Frau und ich eine gemeinsame Wirklichkeit. Wir kannten weder die Namen noch die Herkunft voneinander. Aber sie schenkte mir Nüsse und Hoffnung und ich ihr ein Märchen. Psychosen sollten weder romantisiert, noch stigmatisiert werden. Sie können eine unglaubliche Fantasie bergen – und großes Leid. Betroffene brauchen oft Behandlung und immer aufrichtige Wertschätzung. Manchmal liegt viel Heilung in dem Aushalten von Widersprüchen, in kurzen Gesprächen auf Augenhöhe – und in Nüssen, mit grüner Farbe beschmiert.

Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Tabea Farnbacher wurde 1996 in Hannover geboren. Sie arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung in einer psychiatrischen Klinik im Ruhrgebiet. Seit 2016 ist sie außerdem als Bühnenpoetin und Lyrikerin tätig. Farnbacher wurde mehrfach für ihre schriftstellerische Arbeit ausgezeichnet unter anderem mit Bundespreis „Treffen junger Autorin:innen“. In dieser Kolumne schreibt sie über ihre Erfahrungen und ihre Entwicklung als junge Therapeutin.

Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.

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