Herrn P. beschreibe ich am besten durch seine Art, mein Büro zu betreten: Nach einem kaum hörbaren Klopfen und dem vorsichtigen Drücken der Klinke erscheint sein Kopf zwischen Tür und Rahmen. „Störe ich?“, fragt er jedes Mal. „Nein, Sie kommen genau richtig“, antworte ich jedes Mal. Erst dann taucht auch der Rest seines Körpers im Raum auf.
So, wie Herr P. mein Büro betritt, betritt er auch sein Leben. Mit dem Kopf voran. Er zerdenkt Situationen bis in ihre kleinsten Bestandteile und Möglichkeiten. Was könnte wann passieren? Was würde er dann tun? Was würden die anderen dabei denken? Wenn ich ihm Fragen stelle, gibt er mir meistens hochkomplexe Antworten – einerseits, andererseits, er wisse ja, er fühle aber. Selten habe ich einen so ausdifferenzierten Menschen kennengelernt. Während manche Menschen durch vorschnelles Urteilen Probleme erzeugen, erzeugt Herr P. Probleme dadurch, dass er unzählige Perspektiven einnimmt, bis er handlungsunfähig und verwirrt erstarrt.
Auch heute ist das so. Herr P. überlegt nämlich, ob er am Wochenende allein ins Kino gehen soll. Die Vorteile und Risiken bringt er mit. Ich lausche eine Weile und werde immer konfuser. Aus seiner einfachen Frage ist ein Minenfeld geworden. „Herr P.“, unterbreche ich ihn, „warten Sie mal.“ Dann schlage ich ihm vor, dass wir die Stühle wechseln und er die Rolle des Therapeuten einnimmt. Er nickt zögernd.
Auf seinem Stuhl sitzend, gebe ich seinen inneren Konflikt wieder. Ich zähle so viele Argumente für beide Seiten auf, wie ich kann. „Sie sollten einfach ins Kino gehen“, unterbricht er mich plötzlich mit einer entschiedenen Klarheit. In mir beginnt etwas zu leuchten. Ich spüre, dass hier ein wichtiger Therapiemoment ansteht. Aber wie mache ich das nur für uns beide nutzbar?
Zu Beginn meiner therapeutischen Arbeit habe ich mich eigentlich immer auf meine Intuition verlassen. So wie auch jetzt, indem ich Herrn P.s größte Sorge benenne: „Aber was, wenn die Leute denken, dass ich komisch bin?“ Meine Hoffnung ist, dass er sich selbst viele bestärkende Argumente liefert, um seine Entscheidung zu festigen. Doch da liege ich falsch. Sofort fällt die Therapeutenrolle von ihm ab und es steigen ihm Tränen in die Augen: „Ich weiß es nicht“, sagt er.
Ich ärgere mich über mich selbst. Doch im Gegensatz zu meinen ersten Sitzungen weiß ich heute etwas Wichtiges: Nicht nur meiner Intuition zu folgen, sondern auch besser zu verstehen, was ich eigentlich tue. Heute ist mir bewusst, dass ich zu schnell war. Herr P. kann sich noch nicht gegen sein Grübeln wehren. Aber er hat ein zartes Pflänzchen der Gewissheit in unserem Gespräch platziert und jetzt ist meine Aufgabe, es zu pflegen.
Ich atme einmal durch und starte einen neuen Versuch: „Sie haben mir den weisen Rat gegeben, es einfach zu tun. Wieso?“ Herr P. ringt noch einige Sekunden mit sich, dann strafft er seine Schultern, blickt mich direkt an und erwidert: „Die Gedankenschleifen bringen überhaupt nichts. Es geht nicht darum, eine gute Entscheidung zu treffen, sondern überhaupt eine zu treffen. Und das dann eben auszuhalten.“
Herr P. bezeichnet diesen Dialog später als den wichtigsten Moment in der Therapie. Er habe plötzlich gespürt, dass es die Kontrolle, nach der er suche, gar nicht gibt. Er habe „rausgezoomt“ und verstanden, dass ihm das Grübeln mehr schade, als eine schlechte Entscheidung.
Eine meiner größten Entwicklungsaufgaben als angehende Therapeutin ist es – so wie Herr P. –, die richtige „Zoom-Einstellung“ zu wählen. Als Therapeutin muss ich ein Vogel sein können, der am Himmel kreist und das Geschehen überblickt, aber auch ein Eichhörnchen, das neugierig ein kleines Nüsschen sucht, einen einzelnen Satz unter die Lupe nimmt. Manchmal ist es sinnvoll, über die Entscheidung fürs Kino zu sprechen. Manchmal darüber, was „Sich-Entscheiden“ für das eigene Leben bedeutet. Manchmal darüber, was gar nicht zur Sprache kommt, während es um das Entscheiden geht.
In jedem Gespräch kann ich mich entscheiden, auf die Mimik, Gestik, die Wortwahl, die Stimme, das Nichtgesagte oder auch das Gefühl von Resonanz zu achten. Welche der unzähligen Zoom-Einstellungen Sinn ergibt, hängt von meinem Gegenüber ab. Im Fall von Herrn P. war es wichtig, ganz genau auf meine Worte zu schauen. In anderen Sitzungen habe ich den Prozess damit aber auch schon unnötig verkompliziert.
Letztlich gilt es für mich und Herrn P. gleichermaßen, die Kunst zu erlernen, Intuition und Verstand miteinander zu vereinen. Und zu spüren, worauf es ankommt. Jeden Tag aufs Neue.
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Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.