Es ist wohl die Horrorvorstellung einer jeden Psychotherapeutin am Anfang ihrer Ausbildung: von Patientinnen für zu jung befunden werden. Ich war 25, als ich begann, in der Psychiatrie zu arbeiten. Ein Kommilitone berichtete mir lachend, ein Patient habe ihm gesagt: „Von einem Welpen wie Ihnen höre ich mir nichts an.“ Ich bin zwar eher Persönlichkeitstyp Katzenkind, aber der Schreck saß tief.
Ich machte mich also schon vor Berufsbeginn daran, mir Rechtfertigungen für mein Alter zurechtzulegen. Zum Beispiel zeigen Studien, dass therapeutische Anfängerinnen ebenso gute Ergebnisse erzielen, wie Profis – vermutlich wegen ihrer hohen Motivation und Lernbereitschaft. Ich sagte mir, dass mein Studium zwar gerade erst abgeschlossen, dadurch aber auch auf einem aktuellen wissenschaftlichen Stand war. Und doch: Wenn ich ganz ehrlich zu mir war, lösten mein Jungsein und auch meine Unerfahrenheit Selbstzweifel aus.
Gleich an meinem ersten Arbeitstag fragte ich deshalb eine Kollegin um Rat. Sie war nur zwei Jahre älter als ich, wirkte aber sehr selbstsicher. Sie riet mir, die Bedürfnisse der Patientinnen hinter der Frage nach meinem Alter zu adressieren. Sie selbst antworte auf die Frage nach ihrem Alter: „Ich sehe darin den Wunsch, dass Sie eine kompetente Behandlung erfahren wollen. Das kann ich nachvollziehen. Woran würden Sie merken, dass ich kompetent bin?“. Sobald die Patientin dann Kriterien nennen würde, wie zum Beispiel das Gefühl, verstanden zu werden, könnte ich mich mit ihr darauf einigen, dass sie nach der Stunde überprüfen könne, ob sie sich verstanden gefühlt habe. Das beruhigte mich. Ich würde gar nicht argumentieren müssen und könnte bei der Perspektive der Patientin bleiben. Ich trug diese Technik wie einen kleinen Schutzschild bei mir.
Nach meinem ersten Jahr als angehende Psychotherapeutin denke ich nun anders über mein Alter. Ich habe ein paar Behandlungsverläufe hinter mir und habe etwas Vertrauen in meine Kompetenzen gewonnen. Jung bin ich allerdings immer noch. Das fällt auch Herrn D. auf, einem waschechten Ruhrgebietler mit direkter Art und breitbeinigem Sitz. Es ist sein erster Tag auf Station und ich stelle mich ihm als seine Bezugstherapeutin vor. Herr D. stutzt kurz und sagt dann: „Sie sind aber jung!“ Sofort bietet mir mein Gehirn verschiedene Reaktionen an. Kurz habe ich auch den gewohnten Impuls, mit ihm zu argumentieren oder zu fragen, was er damit meine. Dann aber denke ich: Moment mal, er hat doch Recht. Ja, ich bin jung. Bewertet hat er das noch nicht.
Ich lächle ihn also herzlich an und sage: „Das stimmt“. Dann warte ich. Er bohrt nach: „Sie sind doch sicher erst 25 – oder noch jünger!“. Ich bleibe bei meiner Linie und sage freundlich: „Fast richtig geraten!“. Dann blicken wir uns eine Weile an. Ich kann förmlich sehen, wie auch sein Kopf verschiedene Antwortoptionen durchspielt und zwischen Neugier, Zweifel, Höflichkeit und Relevanz abwägt.
Und dann passiertes: Herr D. zuckt mit den Achseln und sagt: „Na gut.“ Er steht auf: „Wo ist denn Ihr Büro?“. Wir führen unser Erstgespräch, verstehen uns gut. Er erwähnt mein Alter nie wieder.
Es gibt, anders als ich es mir zu Beginn der Ausbildung erhofft hatte, kein Geheimrezept für den Umgang mit Altersfragen. Manchmal hilft eine Aufklärung über die bereits vorhandenen Qualifikationen, manchmal eine Erörterung im Gegenüber, manchmal ein herzliches Lächeln. Was ich gelernt habe, ist, meine eigenen Unsicherheiten nicht zu früh mit meinem Gegenüber zu bearbeiten. Denn ich könnte genauso gut fragen: Was sind eigentlich meine Bedürfnisse dahinter? Ich möchte als kompetent wahrgenommen werden. Woran könnte ich denn selbst merken, dass ich kompetent bin? Wieso muss mir der Patient das beantworten, wo die Frage doch eigentlich in mir selbst liegt?
Mein Alter ist eine Tatsache, kein Qualitätsindikator. Patientinnen waren schon aus unterschiedlichen Gründen neugierig. Die Gründe sind vielzählig und können ein Gesprächsanlass sein – aber ich denke, wir sollten uns fragen: Ist das der interessanteste Inhalt, den unsere Sitzung gerade zu bieten hat? Und wenn nein: Traue ich mir zu, die Haltung zu meinem Alter nicht weiter im Gegenüber zu erforschen, sondern es genauso vorbehaltlos und neugierig kennenzulernen, wie ich es mir von den Patientinnen auch für meine therapeutische Arbeit wünsche? Herr D. zumindest hatte einiges über sein Leben, seine Symptomatik und seine Ziele zu erzählen. Und das war um Längen interessanter als mein Alter – für uns beide.
Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.