Honigsüß. Das ist das beste Wort, das mir für unsere Stimmen einfällt. Wir sind zwanzig junge Frauen mit fortgeschrittenem Psychologiestudium und lernen das diagnostische Erstgespräch. Es gilt, die Symptome einer psychischen Störung zu erfragen und dabei eine angenehme Atmosphäre zu schaffen.
„Mindestens einmal validieren“, gibt uns die Dozentin vor und lässt uns auf die Schauspielpatientinnen los. Diese haben eine Liste ihrer Symptome und Details zu ihrer Lebensgeschichte erhalten. Die meisten von ihnen sprechen leise, halten den Blick gesenkt, vermitteln Traurigkeit. Wir hingegen halten einen Fragenkatalog in der Hand und sollen am Ende eine Diagnose stellen können. Die Gespräche werden auf Video aufgezeichnet. Später setzen wir uns zusammen und besprechen, was wir verbessern können.
Als ich meine eigene Stimme im Video höre, bin ich unangenehm berührt. In dem Seminarraum mit seinen weißen Türen, Tischen und Wänden gibt es nur glatte Oberflächen und ich bin eine davon. Ich höre mich an, als würde ich ein Yoga-Retreat leiten. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen“, singe ich eine Oktave höher als sonst, „das hört sich wirklich belastend an.“ Dazu nicke ich leicht. Die Schauspielpatientin geht nicht darauf ein und berichtet weiter von der Angst vor der Angst. Es folgen die restlichen Aufnahmen – keine meiner Kommilitoninnen spricht in der eigenen Stimmlage. Wir, die besorgt-verständnisvoll Nickenden, wir, die fürsorglichen Sensiblen, wir, die Mütter. Wir, nicht wir.
Ich erkenne uns nicht wieder. Wo sind all die klugen, manchmal auch rotzfrechen Frauen hin, mit denen ich nach den Seminaren so gerne diskutiere? Die Frauen mit den lebendigen Gesichtern und starken Meinungen? Wer hat uns durch Empathie-Roboter ersetzt? In den aufgezeichneten Gesprächen gibt es keine schiefen Formulierungen, es wird nicht gelacht, es gibt nur sanfte Nachfragen in unnatürlicher Stimmlage.
Aber woher kommt das?
Wir alle starten gerade erst in den Beruf als Psychotherapeutin. Wir versuchen zu lernen, für verletzliche und erkrankte Personen eine sichere Gesprächspartnerin zu sein. Es beruhigt, dabei auf bekannte Rollen zurückzugreifen. Mehr als mir lieb ist, assoziiere ich emotionale Unterstützung mit Weiblichkeit.
„Ich war erleichtert, als ich 40 wurde und nicht mehr Projektionsfläche für Verliebtheit, sondern für Mütterlichkeit wurde“, sagte eine forensische Psychologin mal in meiner Erstsemester-Vorlesung. Das macht mich immer noch wütend – denn ich will beides nicht sein. Ein männlicher Kollege erzählte mir hingegen, dass er in der Psychiatrie ständig dagegen ankämpfen müsse, einschüchternd zu wirken. Patientinnen würden ihm zuschreiben, sie permanent zu analysieren, alles bereits zu wissen. Das analytisch-erkennende ist männlich konnotiert, das verständnisvoll-sorgende weiblich.
Es war anfangs haltgebend für mich, vertraute Rollenbilder zu bedienen. Mindestens genauso haltgebend ist es aber auch zu merken, dass ich mit jedem Monat Arbeitserfahrung freier in meinem Ausdruck werde. Dazu braucht es das Vertrauen, dass ich auch empathisch, verständnisvoll und aufmerksam bin, wenn ich keine Sprachschablonen verwende.
Die anfängliche Aufregung gehört zum Werdegang dazu – die allmählich einsetzende Lockerheit auch. Wir lernen, darauf zu vertrauen, dass wir keine spezifischen Stimmlagen, Sätze oder Geschlechterstereotype brauchen, um kompetente Therapeutinnen zu sein. Wir sind wir – und dürfen es sein.
Transparenz-Hinweis:
Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.