In meiner Jugend Anfang der neunziger Jahre war die Wende durch das Land und durch die große Künstlerfamilie, der ich entstamme, gerast. Ich lebte mit meinem Großvater in einer weitläufigen Altbauwohnung, die bis unter die Decke vollgestellt war mit Büchern, Bildern und Antiquitäten. Eine staubgolden glitzernde Pracht. In einem der abgedunkelten Räume lag meine Matratze zwischen Bücherstapeln und Chinoiserien: wertvollen Porzellanfiguren, Leuchtern, Schalen, die ich nicht berühren durfte.
In den Ruinen der Fischfabrik unter meinem Fenster kämpften nachts die Kater um ihr Revier. Der Tod seiner Frau hatte meinem Großvater die Fähigkeit zu hoffen geraubt und ein Blutgerinnsel in seinem Kopf die Fähigkeit zu zeichnen. Meine Mutter befasste sich mit einem schwierigen Leben an einem anderen Ort. Die Menschen um mich herum waren verloren in ihrem Schmerz, und lebendig zu sein schien mir auf eine geradezu empörende Weise schwierig.
In der bildenden Kunst, mit der sich alle befassten, lag jedenfalls keine Rettung. So viel stand fest. Es wurde gearbeitet, geschwiegen, geweint und gestorben. Und zwar ausdrucksstark. Aber keiner der Beteiligten schien sich einen Reim auf die Angelegenheit machen zu können.
Das Psychologiestudium als Antwort auf alle offenen Fragen?
In einem Anfall von jugendlichem Aufklärungswillen bewarb ich mich deshalb um ein Studium der Psychologie. Und man nahm mich an, völlig ungeprüft. Nur wegen eines halbwegs ordentlichen Abiturs. Vermutlich hätte ich eine tiefergehende Prüfung meiner Motive auch nicht überstanden. „Wozu ham wa dich zum Studium jeschickt?!“, war ein geläufiger Witz meines Großvaters, wenn man irgendeine Frage nicht beantworten konnte. Das habe ich ernst genommen.
In seiner Wohnung hatte ich kein eigenes Zimmer, aber ich hatte den Studienplatz und Arbeit im Altenheim. Das war mehr Sicherheit, als den meisten Leuten um mich herum vergönnt war. An einem nebligen Morgen im Oktober setzte ich mich in die Straßenbahn und fuhr zum Institut für Psychologie, in der Hoffnung auf Rettung und Antwort.
Der Aufschlag hätte nicht härter sein können.
Der Fachbereich Psychologie der Universität war damals in einem ehrwürdigen Altbau mit hohen Fenstern und einem verwilderten Innenhof untergebracht. Aus dem Hörsaal sah man auf ein Hinterhofgestrüpp, in dem im Frühjahr Jasmin und Holunder blühten.
Der Putz bröckelte von der Fassade und vor der Haustür erstrahlte der größte Straßenstrich der Nachwendezeit. Abends liefen junge Damen in roten Highheels, Leopardenstrümpfen und schwarzen Stringtangas unter fahlem Laternenlicht vor dem Institut und an den Brachen daneben auf und ab. Männer aller Altersklassen fuhren im Schritttempo an ihnen vorbei auf der Suche nach Erlösung, wer weiß schon wovon.
Die Studierendenschwemme unseres Jahrgangs bestand aus ehemaligen Physikstudenten, adretten Chefarztfrauen mittleren Alters, von Drogenexzessen angeschlagenen Punks und haltsuchenden Mittelstandskindern. Keine Spur mehr von der handverlesenen Auswahl der Vorwendezeit. Die Professorenschaft wirkte gerupft. Es mischten sich alteingesessene graumelierte Damen und Herren, die das „Gaucken“ – die Überprüfung auf Kontakte zur Staatssicherheit – überstanden hatten, mit den jungdynamischen Neuzugängen, die jene ersetzten, die an dieser Prüfung gescheitert waren. In der Kellerkneipe nebenan, die den schönen Namen „Assel“ trug, trafen wir am Abend alle aufeinander.
Mit Methodenlehre und Statistik herumgeschlagen
Das Institut war Teil der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Der Kognitionspsychologe und vormalige Leiter des Institutes, Professor Doktor Friedhart, Jahrgang 1927, blickte von einem großen Schwarz-Weiß-Foto im Foyer des Institutes ernst auf unsere Truppe herab. Promoviert hat er seinerzeit zum Thema Über die Größenkonstanz der Sehdinge bei Eigenbewegung des Wahrnehmenden. Man fragt sich doch, wie jemand einer solchen lebensabgewandten Frage dermaßen viel Leidenschaft entgegenbringen kann. Vielleicht die Folge eines Kriegstraumas?
Die Fächer in unserer Vorlesungsliste hießen Methodenlehre (Teil 1 und 2), Mathematische Psychologie und Statistik (Teil 1 und 2), Biologische Psychologie und Allgemeine Psychologie. Das haut den Sinn- und Haltsuchenden nicht gerade um.
Ich lernte also das geheimnisumwobene Fachgebiet der Methodenlehre kennen und ich möchte darüber schweigen. Vermittelt wurde es uns von einem rundbäuchigen Professor, der gelegentlich bereits mittags sein Sektchen öffnete und dann ab zwölf Uhr heiterer Stimmung in die Vorlesung kam, die er exakt so sicher schon seit zwanzig Jahren hielt, vom Overheadprojektor mit handbeschriebenen Folien, deren Schrift über die Jahrzehnte verblasst war. Ich empfand tiefes Mitgefühl für ihn. Dieses Fach war wirklich nur alkoholisiert zu ertragen.
„Am besten, Sie bemühen sich gar nicht erst, das zu verstehen“
Ein ergrauter hochgewachsener Herr in kariertem Jackett wies uns in die Besonderheiten der Mathematischen Psychologie ein. Das heißt, er versuchte es. Ein mildes, fast seliges Lächeln huschte über sein Gesicht, wenn er eine seiner mathematischen Modellierungen an die Wand warf. Drehte er sich wieder zu seinem Publikum um, erstarb das Lächeln. Allein unsere Anwesenheit im Hörsaal schien für ihn eine Kränkung zu sein.
Keine Gelegenheit war ihm zu klein, seiner Geringschätzung Ausdruck zu verleihen. „Am besten, Sie bemühen sich gar nicht erst, das zu verstehen“, war einer seiner Standardsätze. Ein Don Quichotte seines Faches. Es waren traurige Lanzenstiche und niemand mochte ihn, nicht einmal er selbst.
Binnen weniger Monate war ich bedient von der Psychologie. Was hatte sie schon zu geben gegen meine Not außer ein paar lächerlich ernsthaft wirkenden technischen Modellen? Ich hatte mich geirrt, gründlich geirrt mit meiner Studienwahl. Hier gab es keine nährende Mutter, keine Alma Mater. Diese Mutter war dürr, sie gab keine Wärme und Antworten auch nicht.
Wenn ich nach Hause kam, lag mein Großvater in seinem Bett, sah fern und schwieg. Die schmale rechte Hand konnte nicht mehr zeichnen, nur noch zittern. Ich machte ihm Bratkartoffeln und goss ihm schweren französischen Rotwein ein. Es gab keine Worte für seinen Schmerz und ich konnte nicht einmal zeichnen wie all die anderen. Ich bin schlecht, ich bin gelähmt, ich bin traurig. Ich zeichne einen Strich auf ein weißes Blatt und ich sehe den Beweis meiner Unfähigkeit.
Die Kunst ist keine Rettung und die Psychologie wird mich bald gefriertrocknen.
Am Wochenende fuhr ich mit dem Auto an das andere Ende der Stadt zu meiner Arbeit im Altenheim. Von hundert Meter langen Gängen gingen die Zimmer ab, fünfzig auf jeder Etage. Eigentlich musste ich nur wischen, sehr viel wischen und tun, was die Schwestern mir auftrugen. Wickeln, füttern, Menschen in ihren Betten herumdrehen, damit ihre Körper nicht schwärende Wunden davontrugen.
Dort lernte ich Frau Dr. Gose kennen. Sie war Doktorin der Germanistik und demenzkrank. Niemand kam sie je besuchen. Sie hielt mir Vorträge, während ich ihr Zimmer wischte, und sie las Bücher, von denen sie nichts mehr verstand. Ihr sprachlicher Ausdruck war exquisit, aber zusammenhangslos. Hat man sich erst daran gewöhnt, macht es keinen großen Unterschied. Sie redete mit leiser Stimme auf mich ein, ein sachte fließendes Rauschen. Ich hörte ihr gern zu und freute mich an der Schönheit ihrer alten Sprache.
Ich arbeitete mich durch Statistik. Ich arbeitete mich durch Mathematische Psychologie. Ich arbeitete mich durch Allgemeine Psychologie und Psychologische Diagnostik und – versteht sich – durch ein experimentalpsychologisches Forschungspraktikum.
Mein Großvater näherte sich seinem Tod mit verbissener Anstrengung und im Altenheim war er überhaupt alltäglich. Ich hielt mich von den Sterbenden dort fern, aber ich lernte die Handgriffe an den Toten. Rückenteil flach stellen, Katheter abziehen, Gebiss herausnehmen, Augen und Mund schließen. Eine Kerze anzünden. Beruhigende, klärende Gesten. Übergangsgesten. „Ein Grab ist immer doch die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals.“ Das Zitat von Georg Christoph Lichtenberg stand über der Illustration für unsere Neujahrsgrußkarte des Jahres 1994.
Plötzlich hat jeder eine psychische Störung
Ich schaute voller Hoffnung auf das Fach Klinische Psychologie/Psychotherapie.
Erst gab es vor dem Institut eine Schießerei verfeindeter Zuhältergangs und dann trafen wir in dieser Sache auf Frau Professorin Waltraut. Sie hieß wie der Bullterrier meiner Tante und mit derselben beißenden Nachdrücklichkeit schlug sie uns ihre Folien mit Listen von Diagnosekriterien psychischer Störungen um die Ohren. Hochhackig, schwarzgewandet, angetan mit knallrotem Lippenstift und völlig ungerührt ob der offensichtlichen Überlastung ihrer Zuhörerschaft bereits nach zehn der neunzig Minuten Vorlesung.
In dem in Europa üblichen Diagnosemanual gibt es zehn Kapitel, jedes hat etwa zehn Unterkapitel, manchmal auch mehr. Und in jedem Unterkapitel sind Störungen aufgelistet, grob geschätzt noch mal zehn. Zu jeder Störung gehört eine Auflistung von Symptomen. Leichte depressive Episode. Eine Liste mit acht Symptomen. Zack! Zwei Minuten zum Mitschreiben, nächste Folie, Kapitel drei, Unterkapitel zwei, mittelgradige und schwere depressive Episode.
In diesen Listen meinte ich meine Verwandten, Freunde und Bekannten zu erkennen. Und mich selbst. In allen Listen. Über alle psychischen Erkrankungen. Wir hatten eindeutig alle alles.
Frau Professorin Waltraut dazu zu befragen schien aussichtslos, denn sie war gänzlich uninteressiert an ihrem studentischen Publikum. Es ging um ihre Forschungskarriere. Schon bald begann sie mit dem Oberexperten auf ihrem Gebiet in einem anderen Teil Deutschlands ein Verhältnis. Ab da war sie meist außer Haus.
Das war ein Glück. Und dann kam noch mehr Glück. In Form von guten Lehrern.
Endlich ein Hoffnungsschimmer im Psychologiestudium
Der eine: ein sanfter Intellektueller mit französischem Akzent, Dr. Jürgen. Alle liebten ihn. Der andere: Dr. Hans, untersetzt, ohne exotischen Akzent, vor der Universitätskarriere war er Arbeiter, wahrscheinlich im Kohlebergwerk. Die beiden hielten Seminare zusammen, zu denen wir eine halbe Stunde früher kamen, um noch Sitzplätze zu ergattern. Denn es war eine echte Show, bei der sie sich in regelmäßigen Abständen ins Wort fielen. „Dr. Hans!“, unterbrach Dr. Jürgen seinen Kollegen bei dessen Vortrag über den von ihm über alles geliebten Behaviorismus.
„Das kannst du so nicht sagen, dass die verhaltensbasierte Diagnostik das Maß aller Dinge ist.“ Dr. Hans zog die Augenbrauen hoch und sah ihn an wie ein ungezogenes Kind. „Dr. Jürgen! Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst! Wer nicht zwischen respondentem und operantem Verhalten unterscheiden kann, dürfte hier gar nicht sitzen.“ Natürlich konnte das niemand von uns. Dr. Jürgen auch nicht. Er wandte sich prompt zur Tür, aber als er schon halb draußen war, lenkte Dr. Hans doch ein. „Na gut. Ich erkläre es dir, komm bitte zurück.“
Dr. Jürgen interessierte die Sache offenbar nur am Rande, er hörte aber brav zu und nutzte die nächste Gelegenheit, uns über die Bedeutung der therapeutischen Beziehung, Ansätze der humanistischen Psychotherapie, den systemischen Ansatz, über Existenzanalyse, Hypnotherapie und Tiefenpsychologie aufzuklären. Während Dr. Hans mit den Augen rollte. Jung, Frankl, Satir, Perls, Ellis, Simon, Beck, Stierlin. Es war, als hätte jemand eine dunkle Truhe geöffnet und es blitzte golden daraus hervor.
Ich vergrub mich in die Bücher, ich hörte alle Lehrveranstaltungen von Dr. Jürgen und Dr. Hans und von noch ein paar anderen Lehrerinnen, die ihr Fach und ihre Studentenschaft liebten. Fast alle hatten sie sich bislang vor mir versteckt, erst hinter der letzten Ecke, gegen Ende des Studiums kamen sie zum Vorschein. Irgendwann traute ich mich zu fragen. Welche therapeutische Intervention bei Sterbenden? Die Antwort kam prompt: „Anwesend sein. Das sollte reichen.“
Scheitern will gelernt sein
Frau Dr. Gose konnte sich nicht mehr allein bewegen. Ich drehte ihren schmalen, zerbrechlichen Körper, um den sich die Windel wie um eine riesige Wunde wickelte. Und dabei sagte sie zu meinem Erschrecken einen sinnvollen Satz: „Ich habe solche Angst vor dem Sterben!“, sehr nachdrücklich und klar. Ich hielt inne. Meine Zunge lag tonnenschwer im Mund, meine Gedanken rasten, es war kein vernünftiger dabei. Ich schüttelte schweigend ihre Decke auf. Dann wendete ich mich ab und ging aus dem Zimmer. Auf dem Flur breitete sich ein pulsierend schmerzendes Schuldgefühl in meinem Kopf aus.
Im letzten Semester sollten wir an der Universitätsambulanz mit echten Patientinnen und Patienten sprechen. Beobachtet durch einen Einwegspiegel und unter Videofeedback. Ich hatte Angst. Bei Frau Dr. Gose hatte ich mir nur selbst beim Scheitern zugesehen. Und ich kann mir auf keinen Fall hunderte Aufzählungen von Symptomen merken, während ich mit einer anderen Person über den Zustand der Ehe, der Gesundheit und der Kinder spreche.
Ist dieser Mensch hier etwa herzlos unbeteiligt? Oberflächlicher Affekt? Neigung zur Rationalisierung? Morgentief? Vegetative Übererregbarkeit? Alle Lebensbereiche betreffende Befürchtungen? Mittelpunktstreben? Mangel an Reue und Schuld? Es ist schlicht unmöglich.
In meinem ersten Gespräch als Frau cand. psych. Klemke schaute ich die Patientin nicht ein einziges Mal an. Immerhin fünfzig Minuten lang. Angestrengt war ich hinter meinem Fragebogenstapel verschanzt und hatte dafür keine Zeit, denn ich musste schließlich viele Dinge auf all den Listen ankreuzen. Dr. Jürgen zeigte mir die Aufnahme und ich versank im Boden vor Scham. Aber er lachte nur und sagte: „Heute scheitern wir heiter!“
Die richtigen Fragen stellen
Als Nächstes eröffnete mir ein junges Mädchen, sie werde von ihrem Vater sexuell missbraucht. Durch den Einwegspiegel sah mich Dr. Hans erblassen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, und schwankte zwischen Panik und Erstarrung. Einen Moment später klopfte es an der Tür und ich wurde zu einem Telefonat herausgerufen. Draußen bekam ich eine kurze Einweisung für die Krisenintervention. Ruhig bleiben. Offene Fragen stellen. Gefühle für gültig erklären. „Nur noch W-Fragen, Frau Klemke“, flüsterte er und schob mich wieder hinein.
O Gott, welche Fragen fangen mit W an? Wohnung, Werkzeug, Wahnsinn? Ich, du, er, sie, es? Ich hätte mir am liebsten schnell etwas auf die Handfläche geschrieben, aber es war zu spät. Also atmete ich aus und fragte so offen, wie ich nur irgendwie konnte. Als ich später im Maßregelvollzug arbeitete, wünschte ich mir diese Spiegelwand manchmal zurück. Eine Wand, hinter der jemand freundlich über mich wacht und mich im Zweifel rettet.
Ich lernte, in Würde zu scheitern. Und manchmal sogar mit Spaß. Und da ich gerade schon dabei war, begann ich zu malen. Ich malte ein Pferd. Es sah aus wie ein Schwein. Ich dachte, ach was soll’s. Das fünfte Pferd sah aus wie eine Mischung aus Pferd und Schwein. In einem Anfall von Übermut zeigte ich es meinem Großvater. Er verzog keine Miene und sagte: „Noch fünfhundertmal und das wird ein richtig gutes Schaf!“
Eine letzte Umarmung aus dem Jenseits
Als er starb, war ich nicht bei ihm. Ich hatte ihn morgens geküsst, ein schweigender Abschied. Als ich wiederkam, tat ich die Handgriffe, die getan werden mussten. Und dann wurden Bilder, Möbel und Bücher herausgetragen und ich schlief noch ein paar Wochen in den Überresten seines Lebens. Irgendwie fiel mir dabei zwischen all den Haufen und Stapeln ein kleines Büchlein in die Hand. Gar kurz ist’s bis zur Ewigkeit, erschienen im Eulenspiegelverlag. Eines von hunderten Büchern, die er illustriert hatte. Darin kuriose Grabsprüche aus mehreren Jahrhunderten.
Ich schlug auf, las: „Hier liegen meine Gebeine, ich wollt, es wären deine!“, und musste lachen. Mit den Fingern fuhr ich über seine Illustrationen, die wie eine letzte Umarmung waren und die der Worte nicht bedurften.
Die neunziger Jahre neigten sich gen Ende. Die Ruine der Fischfabrik wurde abgerissen und die Brachen neben dem Institut verkauft. Es waren plötzlich „Filetgrundstücke“. Überall wurden neue Häuser gebaut. Teure Häuser. Zuerst verschwanden die Kater, der Holunder und der Jasmin. Dann musste die Kellerkneipe ausziehen und bald zog auch der Straßenstrich um. Das Gebäude des Instituts wurde verkauft.
Frau Dr. Gose starb, wenige Monate bevor ich mein Studium beendete und die Arbeit im Altenheim aufgab. Ich sah das weiße Dreieck um ihren Mund, das den Tod ankündigt. Nachts setzte ich mich neben ihr Bett, entschlossen zu bleiben. Der Blick aus dem Fenster endete an einer grauen fensterlosen Wand, die kleine Bettlampe leuchtete einen weißen Lichtkegel an die Wand und aus dem Schwesternzimmer dudelte leise das Radio herüber.
Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem kaum mehr hörbar. Ich griff ihre Hand, die kühl und blauadrig war, und starrte angestrengt auf die Bettdecke. Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam. In meinem Kopf brauten sich Katastrophenszenen zusammen. Atemnot, Erstickungsangst, Panik, Blaulicht, Notarzteinsatz.
Liebevolle Worte vor dem letzten Atemzug
Da waren wir nun, eine Sterbende und eine Frau cand. psych., die vor Angst beinahe starb.
Ich weiß nicht mehr, was in mich fuhr. Irgendwann sagte ich: „Frau Dr. Gose, ich habe ein lustiges Buch gelesen, mein Großvater hat es illustriert.“ Sie reagierte nicht und nach einer halben Minute fing ich an zu rezitieren: „Gottlob, nun bin ich ledig aller Erdenplag, mich kann kein Glück, kein Hoffen mehr betrügen. Und wenn einst naht der Auferstehungstag: Ich bleibe liegen!“ In die Stille hinein öffnete sie nach einem Moment die Augen und sah mich aufmerksam an. Sie flüsterte: „Gottlob!“, dann lachte sie kurz auf: „Ich bleibe liegen!“ „Ja?!“, sagte ich, erfreut über meinen Erfolg.
„Hier liegt Herr Bartholomeus Mayer, in seinem Leben war er Bräuer; Gott nahm sein Leben, er schuf es. Er starb als Opfer seines Berufes.“ Sie lächelte mit geschlossenen Augen und drückte meine Hand, bevor die Stille der Nacht wieder zwischen uns trat. Mit ihrem Lächeln legte sich meine Angst.
Bald darauf hob sich ihr Brustkorb nicht mehr. Ich starrte ungläubig auf die Bettdecke, aber sie bewegte sich nicht, bis nach wenigen Sekunden noch ein tiefer nächster Zug kam. Es war ihr letzter Atemzug, sie hat es mir leicht gemacht, keine Rasselatmung, kein heftiges Nach-Luft-Schnappen. Irgendwann stand ich auf und öffnete das Fenster. Die schwarz angezogenen Männer würden kommen und sie in einen schwarzen Sack legen und sie in einem schwarzen Auto wegfahren. Aber Frau Dr. Gose, die die Sprache liebte und mir zeigte, wie man in Frieden stirbt, hatte ihren Weg längst hinter sich gebracht.
Wie das Studium doch zum Wegbereiter wurde
Nach meinem Diplom begann ich in einem Verein, der obdachlose Jugendliche betreut. Als mir das erste Mädchen von dem sexuellen Missbrauch in ihrer Familie erzählte, war ich vorbereitet, stellte W-Fragen und kam mir professionell vor. Als mir der erste Junge sagte, er habe heute Nacht seinen Freier fast totgeschlagen, rannte ich raus („Ein dringendes Telefonat“). Als mich das erste Mal jemand bedrohte, war ich sprachlos.
Ich hatte an diesem kritikwürdigen, gerupften, wunderbaren Institut für Psychologie, ohne es selbst zu bemerken, gelernt zu beobachten. Ich hatte gelernt, in Prozessen zu denken, genau zu analysieren, meine eigenen Fehler nicht allzu persönlich zu nehmen und mir umstandslos Hilfe zu holen. Und das stellte sich, bei allen Mühen, als gute Basis heraus.
Ich spreche in meinem Beruf als Psychotherapeutin und forensische Gutachterin mit vielen sehr unterschiedlichen Menschen, die meisten in schwierigen Lebenslagen. Wütende Vergewaltiger und sprachlose Mörderinnen, missbrauchte Schauspielerinnen, einsame Hochstapler, verzweifelte Eltern. Schuldige und Trauernde, Sterbende und Liebeskranke, Wohlhabende und Mittellose, Verletzte und Suchende.
Ich darf das Leben und die Welt durch viele Augen sehen. Ich darf mit ihnen suchen, was hilft, lebendig zu bleiben. Die Beschäftigung mit dem Menschen und seiner Seele ist das größte Privileg und die wichtigste Aufgabe, die ich mir vorstellen kann.
Psychologie wurde die Liebe meines Lebens. Sie ebnete mir den Weg zu mir selbst und den anderen, in die Sprache und in die Kunst.
Ich hatte Antworten erhofft. Ich lernte, Fragen zu stellen. Ich hatte Erlösung erhofft. Ich lernte, Komplexität auszuhalten. Ich hatte Rettung erhofft. Ich lernte, die Suche zu akzeptieren.
Anmerkung der Redaktion: Die Erlebnisse und Personen in diesem Essay sind authentisch, doch die Namen wurden ausgetauscht.
Karoline Klemke ist Psychologin und approbierte Psychotherapeutin. Sie arbeitete in der forensischen Psychiatrie, betreute obdachlose Jugendliche und behandelte viele Jahre Schwerkriminelle im Maßregelvollzug, Gefängnis und in einer Straftäterambulanz. Seit 2016 führt sie eine psychotherapeutische Praxis in Berlin.
Zum Buch „Totmannalarm“ von Karoline Klemke
Der martialische Titel täuscht. Karoline Klemkes Buch Totmannalarm ist alles andere als ein reißerischer Report über psychisch auffällige Gewalttäter im Maßregelvollzug. Klemke erzählt – Namen und Details verfremdet, das Geschehen verdichtet – von den sieben Jahren, in denen sie als Psychologin in einer forensischen Psychiatrieklinik gearbeitet hat.
Ihre Patienten: Männer, die Kinder misshandelt, Frauen vergewaltigt, auf Wehrlose eingetreten, Menschen getötet hatten. Doch diese Fälle werden nicht von der Warte einer allwissenden Therapeutin inspiziert. Wir sind im Kopf von Karoline Klemke und erleben, was sie erlebt, während sie mit den Männern redet, schweigt, zuhört, weghört, abwehrt, mitfühlt, wie sie sich selbst bei alldem beobachtet und ihre Reaktionen ironisch kommentiert. Sie leidet an, aber auch mit ihren Patienten.
Im Gegenschnitt begleiten wir sie in ihrem Privatleben, allein mit ihrem kleinen Sohn nach einer unverarbeiteten Trennung. Die Kapitel sind in sich geschlossen, jedes handelt von einem ihrer Patienten. Doch wie in einer guten TV-Serie verändern sich die Protagonisten, sie durchlaufen eine Entwicklung, am meisten die Erzählerin selbst. Totmannalarm, das ist übrigens der Signalgeber für Notfälle, den sie stets mit sich trägt. Ein einziges Mal muss sie ihn einsetzen, in höchster Not. Doch es ist keiner der ihr anvertrauten Männer, der sie attackiert.
Thomas Saum-Aldehoff
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