Machte es sich Rainer Maria Rilke 1902 in Das Buch der Bilder zu einfach, als er dichtete: „Die Einsamkeit ist wie ein Regen / Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen“? Was meteorologisch einsetzt, kippt in der zweiten Strophe: „und wenn die Leiber, welche nichts gefunden / enttäuscht und traurig voneinander lassen / und wenn die Menschen, die einander hassen / in einem Bett zusammen schlafen müssen / dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…“
116 Jahre später stufte der Ulmer Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer die Einsamkeit als „schmerzhaft, ansteckend, tödlich“, ja als Volkskrankheit ein. Dieses Fazit wurde noch vor der Covid-19-Pandemie getroffen, die die gesellschaftliche Vereinzelung nochmals eskalieren ließ, für manche über ein psychisch hinnehmbares Maß hinaus.
Ein Lob der Einsamkeit?
Ist es dann Effekthascherei, wenn der Hirzel-Verlag den Untertitel des Bandes der niederländischen Essayistin, Philosophin und Kolumnistin Marjan Slob – im Original schlicht Over eenzaamheid, über Einsamkeit – erweitert zum „Lob der Einsamkeit“? Im Finale muss man konstatieren: ja.
Es ist ein Langessay, den Slob vorlegt. In nicht wenigen Passagen und Kapiteln meint man eine zu ausufernd geratene Folge von Zeitungskolumnen zu lesen. Dabei ist der Text mit durchweg leichter Hand zu Papier gebracht. Zahlreiche Alltagsvignetten und anekdotische Stellen lockern ihn auf. Zu selten aber ist er wirklich in die Tiefe gehend. Auch die inhaltliche Abfolge will nicht recht überzeugen. So tauchen ältere literarische Bezüge, Montaigne etwa, erst gegen Schluss auf, während Moderne und Gegenwart („Bildschirmzeit“) davor durchwandelt werden. Am Ende verwundert es etwas, wie wenig Erkenntnisse auf 200 Seiten versammelt sind.
Einsamkeit ist Qual, Alleinsein ist Segen
Anton A. Bucher, Professor für praktische Theologie an der Universität Salzburg, geht systematischer, wissenschaftlich ausbalancierter und sprachlich akademischer vor. Er hat seine Untersuchung in die Themenblöcke „Einsamkeit als Qual“ und „Alleinsein als Segen“ unterteilt. Beide leitet er ein mit literarischen Schilderungen. Interessant wird es, wenn Bucher auf das Messen von Vereinsamung eingeht, etwa auf Skalenmodelle und Fragebögen. Anschließend beleuchtet er soziokulturelle Gründe für diesen Seinszustand, wobei auch psychische Krankheiten berücksichtigt und die sozialen Medien debattiert werden sowie der Kontaktverlust in der realen, analogen Welt.
Kundig geht Bucher auf gesundheitliche Folgen von Einsamkeit ein. Sie ist längst als Krankheitsfaktor gesichert, ist der Grund für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Depressionen und Suizid. Sie befördert zudem Demenz und schränkt Kognitionsfähigkeiten ein. Nicht wirklich zu überzeugen vermag dann jedoch die durch viele Zitate und Nachweise gestützte, recht flach ausfallende Darstellung von Alleinsein (und eben nicht sozioemotionaler Isolation) als Positivum.
„Das Alleinsein wird nicht trist, sondern wohltuend, wenn draußen die Menge tobt. Und sich in tobender Menge zu befinden wird erträglicher, wenn seitab die Einsamkeit wartet, verführerisch und siegesgewiss lächelnd.“ Das meinte 2006 die Psychologin Mariela Sartorius. Dass kreatives Arbeiten in der Regel eines Rückzugs bedarf, führt Bucher vor Augen. Er geht auch auf Isolationsformen wie Klöster, Nonnen und Mönche und Schamanen ein.
Durch die Hand des Rituals
Stille verspricht in ganz unterschiedlichen Weltreligionen etwas Gemeinsames, eine stärkere spirituelle Verbundenheit und Reife. Man findet manche kluge Einsicht in Buchers Buch. Um das Thema allerdings auch und zuerst psychologisch darzustellen, hätte es eines größeren Umfangs bedurft. Einen ruhigeren, weniger anmerkungsgesättigten Duktus schlägt der Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch an, bis 2007 Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel. Nicht weniges, was Bucher in den Blick nimmt, findet sich auch bei Rauchfleisch, so die Rolle von Massenmedien oder die Einsamkeit Vorschub leistenden Ängste wie der Klimawandel, aber auch Einsamkeit infolge von sozialem Abstieg und Armut. Auf der anderen Seite skizziert der Wissenschaftler persönliche Faktoren wie Identitätskrisen oder Migrationsbiografien. Erhellend schreibt er über „Einsamkeitsscham“ und „Einsamkeitsschuld“ – zu oft zu sehr unterschätzt.
Noch erhellender ist Rauchfleisch, wenn er Strategien umreißt, wie gegen die Vereinzelung angegangen werden kann. Dabei kommt es auf einzelne, sozialen Widerhall findende Empowerment-Schritte an, wie ihr zu entkommen ist, anders gesagt: auf Selbstfürsorge. Rauchfleisch konstatiert, dass Trost und Zuversicht nicht immer mittels Psychotherapie errungen werden können oder müssen, sondern auch via Ordnung und Strukturen an die Hand gebende Rituale oder durch Halt in religiösem Glauben, wodurch sich manche aufgefangen und als Teil einer größeren Gemeinschaft fühlen können. Inklusion und Solidarität sind, so Udo Rauchfleisch, auch seitens der Gesellschaft präventiv, etwa in den Bau- und Stadtplanungen zu leisten. Denn dann kann Alleinsein auch mehr sein, nämlich die Chance, „ich zu werden“. Und um dann mit einem anderen Poeten, mit Joachim Ringelnatz zu sprechen: Wenn fremde Hände „an mein einsam Wände“ klopfen, laut zu rufen: „Herein!!!“
Anton A. Bucher: Einsamkeit – Qual und Segen. Psychologie eines Gegenwartphänomens. Springer 2023, 176 S., € 19,99
Udo Rauchfleisch: Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit. Analysen und Vorschläge. Patmos 2024, 168 S., € 22,–
Marjan Slob: Der leere Himmel. Lob der Einsamkeit. Aus dem Niederländischen von Monika Götze und Christina Siever. Hirzel 2024, 200 S., € 26,–