Wenn Menschen das Gefühl haben, nicht mehr hinterherzukommen mit all ihren Verpflichtungen, überwältigt zu werden von der täglichen Aufgabenflut oder sich selbst zwischen den vielen Möglichkeiten und den verpassten Chancen zu verlieren, dann empfehlen ihnen Freunde wie Expertinnen ein Wundermittel: „Probiere es mit Achtsamkeitstraining.“
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Achtsamkeit hilft. Es macht, so heißt es, ruhiger, gelassener, bewusster. Man nimmt das Leben dann intensiver wahr, weiß die richtigen Prioritäten zu setzen. Es macht sogar intelligenter und kreativer, geistesgegenwärtiger und empathischer noch dazu. Mangelt es uns dagegen an Ruhe und Gelassenheit und der klaren Prioritätensetzung, fehlt es uns am richtigen Mindset. Mindfulness lautet das Schlagwort. Das nervt. Warum?
Kein Zweifel, Achtsamkeitsübungen können sehr effiziente Copingstrategien für das Leben und Handeln unter schwierigen Bedingungen sein. Darüber hinaus entspringt die Sehnsucht nach Achtsamkeit auch der überaus berechtigten Wahrnehmung, dass es doch möglich sein müsse, auf andere Weise in der Welt und im Leben zu stehen als in dem Hamsterradmodus des ewigen Abarbeitens, Abhetzens und Weiterrennens.
Achtsamkeit will uns befähigen, wieder wirklich auf- und zuzuhören: auf-hören nicht nur im Sinne des Anhaltens, sondern des Empfänglichwerdens, des Sich-anrufen-Lassens, und Zuhören als Form des sich wirklich Einlassens auf ein anderes oder einen anderen. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Fokus auf den Seelenzustand des Subjekts
Problematisch wird Achtsamkeit jedoch dort, wo der Fehler ausschließlich im Geist des Individuums gesucht wird, dort, wo sie das Falsche und Problematische sozialer Verhältnisse einfach in ein subjektives Problem übersetzt: Wenn du ständig in Zeitnot gerätst, musst du achtsamer sein. Wenn dich die Flüchtlingsströme und Klimakrisen in den Nachrichten fertigmachen, musst du Gelassenheit und Akzeptanz üben. Ist der Blick dergestalt ausschließlich auf den Seelenzustand des Subjekts gerichtet, werden politische Empörung und der Impuls zum politischen Handeln systematisch verhindert – sie erscheinen dann als eine unheilvolle „Vermischung“ mit den Verhältnissen.
Daher werden Achtsamkeitspraktiken in vielen Zusammenhängen einfach als Techniken zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der individuellen Leistungsfähigkeit – und damit zur Aufrechterhaltung zerstörerischer gesellschaftlicher oder systemischer Zusammenhänge – eingesetzt. Achtsamkeit ist dann am Ende einfach eine Beschleunigungstechnik und Wettbewerbsstrategie. SozialeVeränderung wird durch solche Praktiken eher verhindert als befördert. Mit Marx gesprochen: Nicht mehr die Religion, sondern die Achtsamkeit ist das Opium des Volkes.
Achtsamkeit kann affirmativ zur dominanten gesellschaftlichen Realität ein Instrument zur Steigerung von Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit sein. Sie kann aber auch subversiv zu einem Element der Suche nach einer alternativen Lebensform, nach einer anderen Weise des In-der-Welt-Seins werden. Wo sie uns allerdings als psychotherapeutisches Wundermittel angepriesen wird, können wir nicht skeptisch genug sein.
Hartmut Rosa studierte unter anderem Politikwissenschaft. Er ist Professor für allgemeine und theoretische Soziologie an der Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt.