Ein Ehepaar Anfang 50 möchte eine Paartherapie beginnen. In ihrem Anschreiben formulieren sie einen jahrzehntelangen Konflikt um die Frage, wie oft sie Sex haben und wer ihn initiiert. Dabei erlebt sich der Mann als ewig Wartender, seiner abwehrenden Frau endlos ausgeliefert. Die Frau erlebt sich als ewig unter Druck Gesetzte, die mittlerweile gar keinen Spielraum mehr spürt, überhaupt noch eigene Lust zu entwickeln. Einmal pro Woche macht sie um des Friedens willen mit. Oft erlebt sie den Sex dann als okay, ohne dass sie mehr davon möchte. Seine Verletzung über das Zuwenig, das er erlebt, überschattet inzwischen andere Bereiche ihres Miteinanders. Trotz zweier therapeutischer Anläufe ist das Paar nicht weitergekommen. Sie lieben sich und möchten zusammenbleiben, aber ihr Leidensdruck ist mittlerweile immens hoch.
Solche Anfragen lese ich zunächst mit großem Respekt. Als Erstes frage ich mich, was ein dritter therapeutischer Versuch bei einem so leidvoll-stabilen Konflikt erbringen könnte. Wie kann ich ihnen weiterhelfen? Genau das werde ich im Erstgespräch sorgfältig mit ihnen erörtern, damit wir nicht naiv in ein weiteres Projekt mit Enttäuschungspotenzial starten, sondern die Risiken und Preise der Veränderung von Anfang an mitdenken.
Ich begegne zwei angenehm klugen, herzlichen und bodenständigen Menschen. Ihre Konfliktspannung haben sie spürbar mitgebracht. Die Frau atmet immer wieder schwer und ist den Tränen nahe, der Mann wirkt körperlich unter Strom, wütend und muss sich sichtlich anstrengen zuzuhören, ohne ihr ins Wort zu fallen. Zugleich können sie mit etwas Distanz über ihr Problem sprechen und spürbar benennen, dass sie einander mögen.
Die Therapeutin: Fuchs und Hase zugleich
Ich frage nach, woran die beiden vorherigen Therapien scheiterten. Er antwortet: „Die erste Therapeutin war auf der Seite meiner Frau, die zweite auf meiner Seite. Das ging dann nicht gut.“ Ich notiere für mich, dass ich Fuchs und Hase sein muss, um mich dem Konflikt dieses Paares allparteilich zuzuwenden und für beide hilfreich zu sein. Das spreche ich dann auch aus und bitte sie, mir sofort ein Zeichen zu geben, sollten sie mich als parteiisch erleben.
Dann erkunde ich mit ihnen die Konfliktsituation näher. Während die Frau sagt: „Weil du mich so unter Druck setzt, rutsche ich immer mehr in die Reserve – immer nur das eine Thema! Ich würde mittlerweile am liebsten ganz ohne Sex leben“, verdeutlicht der Mann: „Weil du mich am ausgestreckten Arm verhungern lässt, von dir aus nie Sex anbietest und maximal unklar darüber bist, ob, was und wann du willst, wenn ich es vorschlage, reagiere ich so frustriert.“ Beide Positionen zusammen ergeben einen Teufelskreis, in dem das Verhalten des einen Partners die unerwünschte Reaktion des anderen triggert und umgekehrt. Beide sehen das ein, erleben sich aber als alternativlos. Sie: „Wenn ich mich nicht wehre, habe ich das Gefühl, ausgelöscht zu werden.“ Er: „Wenn ich nicht mehr fordere, kommt erst recht nie was.“
Aus der Komfortzone bewegen
Ich kommentiere: „Ich verstehe gut, dass Sie beide enorm leiden. Zugleich halten Sie dieses Leiden schon unsagbar lange aus. Obwohl sich nichts ändert, bleiben Sie. Und Sie hoffen immer weiter, dass der/die andere sich endlich ändert, während Sie jeweils selbst immer das Gleiche machen. Das finde ich interessant.“ Beide müssten für Veränderung etwas auf- und hergeben oder sich aus der eigenen Komfortzone herausbewegen, was ihnen aber unmöglich erscheint.
Welche Veränderung wünschen sie sich? Der Mann antwortet: „Wenn ich den Eindruck hätte, du befasst dich mit deiner eigenen Sexualität, wäre es schon besser für mich. Und wenn du wenigstens klar sagen würdest: Heute geht nichts mehr, aber morgen.“ Sie darauf: „Ja, dann müsstest du mir nicht mehr so viele Sexbücher auf den Nachttisch legen… Mir wäre geholfen, wenn du mich deinen Frust nicht spüren lassen und mir insgesamt mehr Zeit geben würdest.“ In den ersten Sitzungen bewegen wir uns immer wieder in dieser Pattsituation und ihren Kosten für beide Partner. Was hieße es, selbst etwas zu ändern, um den Bedürfnissen des Partners aus eigenem Willen entgegenzukommen?
Der erste Schritt: Herrin im eigenen Haus oder „Ja, ich will nicht“
In der Folge kommt die Frau zu zwei Einzelsitzungen zu mir, um für sich einen klareren Stand zu finden. Sie nimmt daraus mit, dass sie zu ihrem Nein stehen und sich abgrenzen will. Bislang hat sie aus schlechtem Gewissen wachsweiche Neins kommuniziert, die ihren Mann noch mehr geärgert haben. Jetzt kann sie sagen: „Ja, ich will nicht. Nicht jetzt, nicht dann. Und noch nie war mir Sex besonders wichtig. Ich stehe dazu, auch wenn es dir weh tut. Ich muss dann aushalten, dass du frustriert bist.“ Wieso sollte das ihm weiterhelfen? Erstens hat er als Wunsch formuliert, dass sie klarer sein soll. Aber das ist nicht alles: Nur wenn sie das eigene Nein bejaht, kann sie sich als autonom erleben. Sie ist Herrin im eigenen Haus, dessen Tür sie zumachen kann. Dabei kann es dauerhaft nicht stehenbleiben, aber dieser erste Schritt ist unverzichtbar. Denn nur wenn die Tür zu ist und sie sich nicht mehr so stark von seinen Erwartungen bestimmen lässt, kann sie sich im eigenen Haus umsehen und spüren, was sie will. Diese Schritte sind hoch eigenverantwortlich. Zum Beispiel muss sie sich entscheiden, sich im Alltag mehr Zeit einzuräumen, um Stress abzubauen und Kontakt mit ihrem Körper aufzunehmen. Sie entscheidet sich dafür – das nimmt ihr Mann wahr und goutiert es. Aber es reicht ihm natürlich nicht, denn er bekommt nach wie vor nicht, was er sich wünscht: ihr Begehren. Außerdem ist er gefordert, wenn sie zum Beispiel sagt: „Abends bin ich zu müde für Sex. Wenn, dann passt es mir morgens besser, könnten wir das ausprobieren?“ Jetzt muss er sich bewegen.
Er gibt ihr Spielraum und beweist Vertrauen
In der Folgesitzung berichten beide einen wichtigen Fortschritt: Er hat ihr tatsächlich mehr Spielraum gelassen, den sie als Vertrauensvorschuss interpretierte. Dadurch konnte sie sich freier und froher bewegen, und sie hat bereits einige Male Sex vorgeschlagen – ohne eigenes Verlangen, aber als freiwillige Entscheidung dafür, den Appetit beim Essen kommen zu lassen. Immer noch nicht optimal für ihn, aber vielleicht das, was realistisch möglich ist.
Wir zeichnen genau nach, wie sie das geschafft haben, damit sie in der Lage sein werden, es zu wiederholen. Ich erwarte die beiden in der nächsten Sitzung mit einigen weiteren Fortschritten und einigen Rückfällen. Dann wird es darum gehen, weiterhin anzuerkennen, dass sie immer wieder ja zur Beziehung mit einem Partner sagen wollen und können, der an entscheidender Stelle nicht so ist, wie sie es sich wünschen. Sollte die Situation der erotischen Annäherung weiterhin positiv stabil sein, möchte ich mit dem Paar als Nächstes über die Qualität ihrer Erotik sprechen, denn was sich für beide gut anfühlt, werden beide noch lieber und natürlicher aufsuchen.
Angelika Eck ist promovierte Diplompsychologin und systemische Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis. 2016 erschien das von ihr herausgegebene Buch Der erotische Raum. Fragen der weiblichen Sexualität in der Therapie (Carl-Auer)