Herr Dr. Altmann, in der Forschung wird Empathie unterschiedlich beschrieben – wie definieren Sie Empathie?
Für mich persönlich ist Empathie das Mitfühlen der Emotionen, die der andere Mensch hat, in einer ähnlichen Weise. Es muss nicht genau die gleiche Emotion sein, sie muss nicht genau so stark sein, aber es entsteht ein Abbild der Gefühle des anderen in mir – und das unter der Voraussetzung, dass ich eine klare Vorstellung von meinem Gegenüber habe. Dass ich nicht einfach lache, weil er lacht, und nicht nur angespannt bin, weil er angespannt ist, sondern auch eine Idee habe, wie seine Situation zustande kommt.
Ein Beispiel: Der Vater eines Freundes ist gestorben. Ich weiß es noch nicht, aber ich sehe ihn traurig dasitzen und werde ebenfalls traurig. Das würde ich noch nicht Empathie nennen. Erst wenn ich weiß, dass sein Vater gestorben ist, würde ich dieses gemeinsam In-der-Emotion-sein als Empathie bezeichnen.
Wie bezeichnet man die Vorstufe, wenn man mit jemandem mitschwingt, ohne den Kontext zu kennen?
Das nennt man emotional contagion, Gefühlsansteckung. Das gibt es häufig. Ich habe zum Beispiel im Zug erlebt, dass eine Mitreisende über Kopfhörer etwas gehört hat und minutenlang lachte, so dass alle im Großraumabteil mitlachen mussten. Man kann sich gegen diese Form der Gefühlsansteckung nicht wirklich wehren.
Ich wollte eigentlich nicht lachen, meine Emotion war gerade eine andere, ich hatte ganz andere Sachen im Kopf. Aber ich konnte nicht anders – und musste mitlachen. Gefühlsansteckung funktioniert gut bei Lachen, aber auch bei Aggression. Wenn jemand sehr angespannt irgendwo auftaucht, dann sind auch alle anderen schnell sehr angespannt.
Empathie gilt generell als wünschenswerte Fähigkeit. Würden Sie dem zustimmen?
Auf jeden Fall. In jüngerer Zeit gibt es allerdings auch kritische Stimmen, die sagen, dass Empathie negative Konsequenzen haben kann, zum Beispiel zu einem Burnout führen kann, wenn man zu sehr mit anderen mitschwingt. Eine andere negative Seite der Empathie, die diskutiert wird, ist, dass wir nur mit bestimmten Gruppen empathisch sind.
Wir haben eine emphatische Präferenz für Menschen, die uns in bestimmten Merkmalen ähnlich sind, zum Beispiel eine ähnliche Hautfarbe haben, aus einem ähnlichen Kulturkreis stammen oder einen ähnlichen Bildungshintergrund haben. Was dazu führen kann, dass wir mit Europäerinnen und Europäern empathischer sind als mit anderen, die unsere Empathie vielleicht mehr benötigen würden.
Sie haben sich in einer Studie angeschaut, welch unterschiedliche Thesen es in der Forschung zum Zusammenhang von Burnout und Empathie gibt. Die eine These lautet: Empathie kann als ein Puffer gegen Burnout wirken. Wie wird diese These begründet?
In sozialen Berufen ist es hilfreich, wenn ich mich gut in andere Menschen einfühlen kann und so der Idee des sozialen Berufes entspreche. Ich kann mich als Pflegekraft als kompetent und authentisch erleben und das verhindert, dass ich ausbrenne, so der Gedankengang. Ich halte diese Argumentation für zu kurz gegriffen. Wir können ja davon ausgehen, dass es Menschen gibt, die empathisch sind und gleichzeitig resilient und selbstwirksam und Ich-Stärke haben. Also von ihrer Grundpersönlichkeit her gut aufgestellt sind.
Und dann ist doch die Frage, ob es bei diesen Menschen wirklich die Empathie ist, die den Burnout verhindert. Oder ob es eher ein Konglomerat aus Eigenschaften ist, die alle irgendwie wünschenswert sind und die dazu führen, dass man weniger an Burnout und an vielen anderen Sachen leidet.
Wie könnte man den Zusammenhang untersuchen, ohne dass man die Empathie künstlich isoliert?
Das ist die Grundschwierigkeit in der Psychologie: dass alles mit allem zusammenhängt. Und auch wenn wir ein Merkmal in einer Studie vielleicht gut umrissen haben, ist es nur eine Perspektive. Wenn man dann die Gesamtheit der Merkmale sieht, müsste man eigentlich sehr komplexe Studien aufbauen und sehr unterschiedliche Merkmale gleichzeitig untersuchen. Das ist die große Aufgabe der Empathie- und Persönlichkeitsforschung in den nächsten hundert Jahren.
Umgekehrt gibt es die These, dass Empathie nicht nur nicht als Puffer gegen Burnout wirkt, sondern im Gegenteil einen Burnout sogar begünstigen kann. Wie lauten die Argumente für diese These?
Ja, das ist unsere Vermutung gewesen, auf der auch unser Projekt empCARE basiert. empCare war ein Forschungsprojekt, in dem wir in Kooperation mit mehreren Unikliniken mit Pflegekräften zusammengearbeitet haben. Wir haben gemeinsam ein Programm entwickelt, wie Menschen in der Care-Arbeit reflektierter mit Empathie umgehen können.
Und aus den Daten dieses Projektes stammt die These, dass Menschen in sozialen Berufen im Verlauf eines Tages häufig mit negativen Emotionen konfrontiert sind. Wenn sie empathisch sind und gleichzeitig nicht gelernt haben, gut für sich selbst zu sorgen, kann bei ihnen im Laufe der Zeit der Symptom-Komplex Burnout entstehen.
Eine Erklärung könnte unserer Meinung nach sein, dass der Burnout nicht durch eine Situation hervorgerufen wird, sondern durch eine Kumulation vieler kleiner Situationen, die alle unaufgelöst sind. Wie so ein Nagen, der Tropfen, der am Ende doch den Stein höhlt. Man denkt über den Tag nach und hat das Gefühl: „Waren ja alles nur Kleinigkeiten.“ Aber wenn das jeden Tag so geht und das über Jahre und immer wieder die Ressourcen fehlen, das auszugleichen, dann kann Empathie dazu beitragen, dass ein Burnout entsteht.
Was ist das Ergebnis Ihrer Untersuchung der beiden Thesen: Empathie als Puffer gegen Burnout oder Empathie verstärkt Burnout – was stimmt?
Mein persönliches Ergebnis ist immer das Gleiche, nach jeder Studie, die ich lese oder schreibe: Wir wissen es nicht genau. Ich fand es interessant, dass - misst man Empathie und Burnout zum gleichen Zeitpunkt -, man sehen kann, dass sie negativ zusammenhängen. Das meint, vereinfacht gesagt: Wer empathischer ist, leidet weniger unter Burnout. Das heißt aber gleichzeitig nicht, dass man Schlussfolgerungen für eine größere Zeitspanne ziehen und sagen kann: Wer heute sehr empathisch ist, wird später keinen Burnout erleiden.
Und ich habe meine Bedenken ja bereits dargelegt, dass ich nicht sicher bin, ob es nur an der Empathie liegt - oder an einem ganzen Set an emotionalen Fähigkeiten, die ein Mensch besitzt und die ihn vor dem Ausbrennen schützen. Die Ergebnisse unserer Studie legen nahe, dass es eben keinen wirklichen Zusammenhang zwischen Empathie und Burnout gibt.
Wenn ich Ihre Erfahrungen aus dem empCare-Projekt richtig interpretiere, dann sagen Sie auch: Es mag weniger daran liegen, wie empathisch ich bin, als vielmehr daran, wie ich mit meiner Empathie umgehe, richtig?
Ja, die Annahme könnte sein, dass Menschen, die empathisch sind, in emotional herausfordernden Situationen Stress empfinden und dass es darum geht, wie sie diesen Stress handhaben.
Was sollte man lernen, um in einem sozialen Beruf gut mit emotional herausfordernden Situationen umzugehen?
In unserem Projekt empCare geht es darum, wie man als Pflegekraft an die eigentlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten herankommt und gleichzeitig die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen verliert. Patientinnen und Patienten haben neben ihren physischen Symptomen auch Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, sind unsicher, wünschen sich Klarheit.
Wie komme ich als Pflegekraft an diese Bedürfnisse heran? Was sind meine eigenen Bedürfnisse und Prioritäten im Augenblick? Und das alles im Krankenhauskontext, mit der gebotenen Schnelligkeit und der Klarheit, wofür ich verantwortlich bin und wofür nicht? Das beste Konzept, das ich dafür kennengelernt habe, ist die so genannte Gewaltfreie Kommunikation.
Könnten Sie mir ein Beispiel geben, in welcher Situation Gewaltfreie Kommunikation helfen kann?
Es ist deutlich schwerer, ein Beispiel zu nennen, in der sie nicht hilft – ich bin sehr überzeugt von dem Konzept. Grundsätzlich ist die Idee, dass jeder Mensch Bedürfnisse hat. Und im Pflegekontext ist das eben nicht nur der Patient oder die Patientin, sondern bin das auch ich als Pflegekraft. Und es ist die Aufgabe, die Bedürfnisse ins Gleichgewicht zu bringen. Die Gewaltfreie Kommunikation könnte man als so eine Art Werkzeugkiste verstehen, wie man dieses Gleichgewicht erreichen kann.
Ein Beispiel: Ein Patient klingelt sehr häufig, er klagt über Schmerzen und nennt diverse weitere Anliegen, damit jemand bei ihm vorbeischaut. Neben der Hilfe gegen den physischen Schmerz wünscht er sich eigentlich, dass ihn jemand aus seiner Familie besuchen würde, das ist sein eigentliches Bedürfnis. Das muss ich erkennen: Hier ist ein Mensch, der braucht Verbundenheit. Ich als Pflegekraft kann ihm die in dieser Form nicht geben und das ist auch nicht meine Aufgabe.
Aber ich kann ihm Unterstützung geben, wie er selbst dafür sorgen könnte, dass jemand aus seiner Familie vorbeikommt, und ihm Mut machen, dass er vielleicht mal wieder zuhause anruft. Das geht ein x-faches schneller, als wenn die Pflegekraft noch 26 Mal zu dem Patienten rennt, nicht versteht, was er will, sich über ihn ärgert und geladen nach Hause geht.
Oft erleichtert es ja auch den Patienten schon, wenn erkannt wird, was er für ein Bedürfnis hat. Das ist auch ein Ergebnis unserer Trainings, die wir gemacht haben: Die Pflegekräfte merken, dass wenn sie thematisieren, was das für ein Bedürfnis sein könnte, schon eine große Erleichterung eintritt. Jemand hat zugehört. Wenn das geschehen ist, ist der Patient entspannter und auch eher wieder in der Lage, die Verantwortung zu übernehmen.
Dr. Tobias Altmann ist Akademischer Rat am Institut für Psychologie der Universität Duisburg-Essen. Seine Untersuchung zum Zusammenhang von Empathie und Burnout finden Sie hier. In dem Buch von Tobias Altmann und Marcus Roth Mit Empathie arbeiten – gewaltfrei kommunizieren finden sich viele Besiepiele und Übungen.