Das Buch endet wie so vieles mit dem Tod. Und mit der kleinen Geschichte eines Bettes, das der Vater seinem Sohn vor langer Zeit gezimmert hat. Der Autor hatte sie schon am Anfang erzählt, so dass der Kreis sich schließt.
Daniel Mendelsohn, Altphilologe, Essayist und Kritiker, hat mit der Geschichte, die er hier erzählt, etwas Kostbares geschaffen – eine seltene Perle, groß und schillernd. Der Plot ist rasch erzählt: Sein 81-jähriger Vater Jay, pensionierter Mathematiker, fragt den Sohn eines Tages aus heiterem Himmel, ob er an dessen Collegeseminar über das Homer-Epos teilnehmen dürfe. „Ich werde einfach dasitzen und zuhören.“ Daniel sagt ja und es beginnt, verwoben mit der Textanalyse des antiken Stoffes, die private Odyssee der beiden Mendelsohns. In dieser sucht der Sohn seinen Vater, und der Vater kehrt heim zu seinem Sohn – nach jahrzehntelanger innerer Distanz. Sie reisen jedoch nicht nur im Text von Troja bis Ithaka. Am Ende des Semesters buchen sie eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer mit dem Motto „Auf den Spuren des Odysseus“ – Vater und Sohn in einer Kabine.
Dieses Getue um Odysseus!
Man ahnt es gleich, der Vater wird nicht einfach im Seminar sitzen und zuhören. Schon in der ersten Stunde mischt er sich ein, meinungsstark, schlau, oft brüsk. Was soll dieses Getue um Odysseus, will er wissen. Odysseus ist überhaupt kein Held! Er betrügt seine Frau. Er ist ein Angeber. Er lügt. Und was vielleicht am schlimmsten ist: Er weint. Ein Waschlappen! Genau wie sein Sohn Telemachos, immer kommen ihnen die Götter zu Hilfe. So lauten Jay Mendelsohns Kommentare, mit denen er die Studenten zunächst erheitert, dann deren Diskussionen bereichert und schließlich ihre Herzen erobert.
Daniel, der unterschiedliche Ausgaben der Odyssee vor sich liegen hat, schaut zu seinem Vater, der mit dem iPad hinten in der Bank sitzt. Er sieht einen Greis. Kleiner als er ihn in Erinnerung hatte, blasser, älter, gebeugter. Er betrachtet seine Glatze, die so „rührend ungeschützt“ aussieht. Da sitzt er also, der alt gewordene Dad, der wie immer, wenn sein Gegenüber begeistert ist, dagegen anredet. Der Gefühlen Haltung entgegensetzt. So kennt Daniel ihn von Kindheit an: Wer Hilfe braucht, ist schwach. Diese Strenge hat er schon immer verabscheut, genau wie die hässlichen Hemden. Peinlich sind ihm auch die ungehobelten Tischmanieren und Aussprachefehler seines Vaters.
Odysseus und Telemachos: zwei Waschlappen also. Daniel erläutert den Studenten, dass Weinen für die homerischen Figuren der Bronzezeit nichts Peinliches war. Dass in der Ilias und der Odyssee reichlich Tränen fließen. Er wirft seinem Vater einen Blick zu. Keiner von beiden hat den anderen je weinen sehen.
Die Frage nach der Identität
Die Schlüsselszene des Buchs findet auf der Kreuzfahrt statt, in der Grotte, in der Odysseus sieben Jahre Tisch und Bett mit der schönen Meeresnymphe Kalypso geteilt haben soll.
Daniel beschließt, dieses Ziel auszulassen, weil er unter Klaustrophobie leidet, auch in Fahrstühlen und Flugzeugen. Doch der Vater überredet ihn mitzukommen. Beim Anblick der Felsspalte, durch die sich die Mitreisenden zwängen, packt Daniel die kalte Angst. „Komm schon“, sagt Jay. „Ich bin bei dir.“ Der Vater nimmt den Sohn an der Hand. Daniel schwitzt, hat Herzrasen. Mit Müh und Not schafft er es. „Gut gemacht, Dan.“
Wieder zurück in den USA stolpert der Vater auf einem Parkplatz, ein Hüftknochen wird angeknackst. Es folgen Blutgerinnsel, Schlaganfall, Rollstuhl, ein Sich-wieder-Aufrappeln, Komplikationen und schließlich der Tod.
Die Geschichte von Daniel und seinem Vater ist eine intelligente Einführung in die Odyssee und zugleich die Übersetzung des antiken Epos in ein modernes Buch über Familienbande, Liebe und Schweigen, Suche und Sehnsucht, Ungewissheit und Sterblichkeit. Und über all diesem schwingt die Frage nach der Identität, die schon Homer besang. – Ist es derselbe Odysseus, der nach 20 Jahren nach Hause kommt? Und welches Ich hatte Jay nach dem Schlaganfall? Es geht um das Rätsel unseres wahren Selbst, betörend gut erzählt.
Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Siedler, München 2019, 349 S., € 26,–