Die innere Leere nach dem Kontaktabbruch

Eine Supervisionssitzung verhilft unserer Kolumnistin zu einem Durchbruch bei einer stockenden Therapie

Die Illustration zeigt eine Frau zweimal. Einmal ist die Frau ganz aufgedreht und einmal wirkt sie ganz traurig
Eine fünfzigjährige Leiterin eines Friseursalons versteckt ihren eigentlichen Schmerz hinter Alltagsproblemen. © Rosa Viktoria Ahlers für Psychologie Heute

Frau L. und ich waren uns einig: Die Therapie lief toll. Schon vor der Sitzung machte Frau L. sich Gedanken, worüber sie sprechen wollte. Als fünfzigjährige Leiterin eines Friseursalons hatte sie viel zu erzählen. „Sie können sich nicht vorstellen, was jetzt wieder passiert ist!“, eröffnete sie fast jede Stunde, woraufhin ein hektischer Schwall von Worten folgte. Meine Methoden und Hypothesen nahm sie bereitwillig an.

Frau L. hatte eine rauchige Stimme, trug farbenfrohe Outfits und zeigte intensive Emotionen. Alles an ihr schien mir laut zu sein. Auch ihre Sorgen. Frau L. war eine spannende Erzählerin und ich eine willige Zuhörerin. Ob Konflikte mit den Mitarbeitenden oder Zwickmühlen zwischen gewissenhafter Arbeit und Kostendruck – gemeinsam suchten wir nach Lösungen für ihre Schwierigkeiten und fanden sie auch. Ihre Ängste nahmen ihre Tage ein, erzeugten eine schier endlose Kette an möglichen Gefahrenquellen. Ihr Leidensdruck war deutlich, ließ sich für mich aber nicht vollständig durch ihre Alltagssorgen erklären. Ganz selten tauchte in den Sitzungen auch eine leise, zähe Traurigkeit auf – wenn sie von dem Kontaktabbruch zu ihrer Tochter erzählte oder von der inneren Leere, die sie oft spürte. Doch wir streiften die Themen nur am Rande, denn oft, wenn ich darauf einging, fiel ihr schon das nächste Problem ein. Jede Woche aufs Neue beruhigten wir Frau L. so weit, dass sie mit ihrem Alltag fortfahren konnte. Sie erlebte die Sitzungen als lösend.

Ein fester Bestandteil der Ausbildung zur Psychotherapeutin ist die Supervision. Für jede Patientin, die ich behandle, nehme ich diese Sitzungen wahr. Die Supervisorin achtet darauf, dass der Behandlungsplan stimmig ist, dass geeignete Methoden gewählt werden, und begleitet die Entwicklung der Therapeutinnenpersönlichkeit. „Es läuft gut!“, berichtete ich meiner Supervisorin nach der sechsten Sitzung, „der Beziehungsaufbau war leicht. Ich bin beeindruckt, wie genau Frau L. weiß, woran sie arbeiten möchte.“ Meine Supervisorin ließ sich die letzten Sitzungen genau schildern, während sich eine kleine Falte auf ihrer Stirn zunehmend vertiefte. Diese Falte kannte ich schon. Je tiefer sie war, desto sicherer konnte ich mir sein, dass ein Wendepunkt in meinem therapeutischen Prozess anstand.

„Wohin möchte sich Frau L. in der Therapie entwickeln?“, fragte sie mich. Ich stockte. Da war Leere. Wir hatten bislang über Alltagsprobleme gesprochen, das „große Ganze“ aber lag für mich im Nebel.

Ich überlegte, welche Themen sich wiederholten. Die Tochter, die innere Haltlosigkeit. Doch immer, wenn ich zu diesen Themen Nachfragen stellte, kam es mir vor, als würde ich Frau L. zwingen müssen, als würde ich ihr Schmerz bereiten. Außerdem fühlte es sich respektlos an, ihre wöchentlichen Konflikte nicht mit ihr zu besprechen, schließlich forderte sie doch meine Unterstützung ein! „Es kann auch respektlos sein, dem Teil von ihr, der leise und stetig die Tochter zur Sprache bringt, keine Beachtung zu schenken. Diesen Teil würde ich nicht allein lassen“, gab meine Supervisorin zu Bedenken. Sie ermutigte mich, gemeinsam mit Frau L. einen Kompass im Nebel des Alltagsgeschehens zu entwickeln, eine gemeinsame Richtung.

Als Frau L. in die nächste Sitzung rauschte und das neueste Drama aus dem Friseursalon berichtete, blieb ich ganz bei ihren Gefühlen. Sie erzählte von ihrer Auszubildenden, die sich oft verspäte: „Das lasse ich mir nicht gefallen, das habe ich in meinem Leben genug ausgehalten!“ Auch ihre Tochter sei unzuverlässig, unverbindlich und oft verspätet gewesen. Als ich eine Nachfrage stellte, wehrte Frau L. wie gewohnt ab. Es gehe schließlich um ihre Angestellte, das mit der Tochter habe sie „nur so daher gesagt“. Ich nahm meinen Mut zusammen und blieb dran. Erklärte, dass ihre Tochter oft auftauche und dass es mir wichtig sei, ihr auch in diesen Fragen des Lebens zur Seite zu stehen. Ohne Erfolg.

Ich drängte Frau L. nicht, spiegelte aber immer wieder, wenn Inhalte in unseren Sitzungen zu regelmäßigen Gästen wurden. Meistens nahm Frau L. das schweigend zur Kenntnis. Manchmal schien sie wütend zu werden. Es entstanden kurze Störungen in unserem ansonsten so harmonischen Prozess. Doch sie kam zuverlässig zu jedem Termin. Ich sagte mir mantraartig, dass ich mein Gegenüber auch dann würdige, wenn ich an das erinnere, was es selbst vergessen will.

Und irgendwann, da war Frau L. bereit: „Ich habe viel über meine Tochter nachgedacht. Es tut weh, weil ich mich so hilflos fühle“, begann sie die Stunde. „Wollen Sie mir mehr dazu erzählen?“, fragte ich. Sie wollte.

Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Tabea Farnbacher wurde 1996 in Hannover geboren. Sie arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung in einer psychiatrischen Klinik im Ruhrgebiet. Seit 2016 ist sie außerdem als Bühnenpoetin und Lyrikerin tätig. Farnbacher wurde mehrfach für ihre schriftstellerische Arbeit ausgezeichnet unter anderem mit Bundespreis „Treffen junger Autorin:innen“. In dieser Kolumne schreibt sie über ihre Erfahrungen und ihre Entwicklung als junge Therapeutin.

Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.

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