Frau G. betritt mein Büro, sinkt auf ihren Stuhl und beginnt sofort zu weinen. „Ich weiß auch nicht, was los ist“, bringt sie hervor, „letzte Woche war alles so gut und jetzt fühle ich mich, wie vor der Behandlung.“ Dann beginnt sie, alle Themen aufzuzählen, die sie derzeit belasten. Frau G. ist eine Meisterin der Aufzählungen. Sie ist eine kreative Freiberuflerin, die gedanklich ständig um ihre anstehenden Aufgaben und Sorgen kreist. „Das würde mich auch überfordern“, denke ich. „Fangen wir doch bei Ihrer nächsten Woche an“, schlage ich vor. Während wir überlegen, wie sie sich selbst gut durch ihre Traurigkeit und Ängste begleiten könnte, denke ich über unsere vergangenen Sitzungen nach.
Frau G. ist jetzt seit sieben Wochen bei uns. Sie kommt sehr schnell auf neue Ideen. Eine kleine Frage genügt und sie findet selbst zu ihrer Lösung. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass es zu einem plötzlichen Stimmungseinbruch kommt. Ich erinnere mich an eine ganz ähnliche Sitzung zu Beginn der Behandlung. Dann lässt Frau G. in einem Nebensatz fallen, dass sie am Wochenende nicht schwimmen gehen wolle, da sie ihre Tage haben werde. Das lässt mich aufhorchen. „Was wissen Sie über Ihre Stimmung und Ihren Menstruationszyklus?“, frage ich.
Sie wirft mir einen genervten Blick zu, den ich mit „kommen Sie mir nicht damit!“ übersetze. Sie werde wütend, wenn ihr Partner ihre Ängste nicht ernst nehme und sie stattdessen frage, ob sie ihre Tage habe. Ich stimme Frau G. zu. Alle Gefühle haben ihre Berechtigung. Gleichzeitig wirkt sich alles, was wir erleben, auf unsere Gefühle aus. Ganz gleich, ob es eine Abschlussprüfung, ein Streit oder ein Sexualhormon ist. Nicht jede Stimmungsschwankung vor der Menstruation ist gleich störungswertig – manche aber schon.
Frau G. fragt dann doch interessiert nach. Wir besprechen, dass die Diagnose „Prämenstruelle dysphorische Störung“ (PMDS) in die aktuelle, elfte Fassung des Diagnosewerks ICD aufgenommen wurde. Es ist eine stark ausgeprägte Form von PMS, die über schlechte Laune und Heißhunger auf Schokolade hinausgeht. Die Betroffenen erleben eine depressive, gereizte oder ängstliche Stimmung. Häufig tritt diese zusammen mit Symptomen wie Lethargie, Konzentrationsproblemen oder Brustspannen auf. Vermutet wird, dass die Hormone Progesteron und Östrogen sich auf das Serotonin-System auswirken. Einige Tage im Monat kann sich das anfühlen wie eine vollwertige Depression oder eine Angststörung. Als ich die Symptome aufzähle, nickt Frau G. bei jedem einzelnen. Damit gehört sie, je nach Studie, zu drei bis acht Prozent der Menstruierenden, die das erleben. „Unglaublich, dass ich vierzig bin und das erst jetzt lerne!“, sagt sie.
Leider wurde Zykluswissen weder in meinem Studium, noch in meiner Ausbildung vermittelt. Ich hatte so wenig Ahnung von der Wirkung von Sexualhormonen wie ein Fisch vom Fliegen. Auch habe ich noch keinen Aufnahme-Fragebogen gesehen, in dem nach dem Zyklus und zugehörigen Stimmungsschwankungen gefragt wird. Dabei beeinflusst er die Hälfte der Bevölkerung in ihrem Lebensverlauf. Und hier sind Themen wie Schwangerschaft oder Menopause noch gar nicht enthalten.
Es kann einen riesigen Unterschied machen, hormonbedingte psychische Veränderungen zu erkennen. Ich bemerke zum Beispiel einen Zusammenhang zu meiner therapeutischen Arbeit – auch ohne die Diagnosekriterien für PMDS zu erfüllen. Vor meinem Eisprung bin ich oft kraftvoll und kreativ. Ich probiere gern neue Methoden aus und blicke voller Zuversicht auf meine Patientinnen. Kurz vor meiner Menstruation bin ich reizbarer, nehme dadurch aber auch feinsinniger Wut, Ängste und Traurigkeit bei meinem Gegenüber wahr. Und ich brauche mehr Pausen zwischen den Sitzungen. Das sind nur leichte Tendenzen und doch beeinflussen sie mein Handeln. Ich sehe meinen Zyklus nicht als Beeinträchtigung. Jede Phase hat ihre Vorteile für die psychotherapeutische Arbeit.
Frau G. begann, sich die Ängste aufzuschreiben, die kurz vor der Menstruation aufkamen. Sie bemerkte etwa, dass sie sich nur an fünf Tagen im Monat sorgte, mit ihrer Selbstständigkeit in die Insolvenz zu rutschen und für immer an Altersarmut zu leiden. Nachdem ihr diese Sorge eine Woche später unrealistisch vorkam, beschloss sie pragmatisch, sich dennoch bezüglich ihrer Altersvorsorge beraten zu lassen, um ihr Sicherheitsgefühl auszubauen.
In unserem Zyklus kann Kraft stecken, aber auch eine ernsthafte Herausforderung für die psychische Gesundheit. Ich hoffe, dass diese Dinge bald mehr Eingang in die Psychotherapie-Ausbildung finden. Bis dahin lohnt sich ein Blick in die Forschung – und in unsere Zyklus-Apps!
Transparenz-Hinweis:
Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.