„Der Täter konnte nicht ermittelt werden.“ So stand es in dem Schreiben der Polizei. Als ich das las, fühlte es sich an wie ein Schlag in den Magen. Ich bin Zugbegleiterin und hatte einen Fahrgast angezeigt, aber die Ermittlung ist im Sande verlaufen. Mal wieder.
Es fing harmlos an. In den Zügen galt noch die Maskenpflicht und der Fahrgast trug keine. Angeblich hatte er eine Befreiung, aber als ich sie sehen wollte, tickte er aus. Er riss sein Handy hoch, filmte mich, schrie mich an, beleidigte und bedrohte mich. Wir standen gerade auf einem Bahnhof. Ich habe ihn des Zuges verwiesen und den Lokführer alarmiert. Zum Glück ist der Mann von selbst ausgestiegen und der Lokführer hat schnell die Türen verriegelt. Aber noch draußen auf dem Bahnsteig schrie der Mann mich weiter an und filmte mich. Die genauen Worte weiß ich nicht mehr, nur noch dass er sagte, er wolle sich an mir rächen.
Danach musste ich meine Schicht vorzeitig beenden und war drei Wochen krankgeschrieben. Ich weiß selbst nicht, warum mich ausgerechnet dieser Vorfall so getroffen hat. Vielleicht war es einfach zu viel. Wenn man im Schichtdienst arbeitet, dann reichen die Stunden zwischen den Schichten manchmal nicht aus, um alles zu verarbeiten, was ich erlebe. Ich schiebe es weg, verdränge es. Aber es staut sich an.
Im Berufsverkehr ist Frust vorprogrammiert
Seit knapp 13 Jahren arbeite ich als Zugbegleiterin in Regionalzügen in Berlin, Brandenburg und Sachsen. Ich bin viel im Berufsverkehr unterwegs, da ist Frust vorprogrammiert. Die Leute haben es eilig, sie wollen zur Arbeit oder nach Hause. Außerdem fahren bei uns Fußballfans, Partyleute, Ausflügler, Jugendliche.
Wenn man nicht gern Eisenbahner ist, kann man diesen Beruf nicht machen. Wegen Corona sind viele Flugbegleiter zu uns gekommen. Sie waren entsetzt, wie die Leute in der Bahn hier mit uns umgehen. Sie kannten das nicht.
Für manche Fahrgäste bin ich wie ein Sandsack, an dem sie ihren Frust ablassen können. Je mehr Stress es in der Welt gibt, wie zuletzt durch die hohen Energiepreise, desto mehr wird an uns Mitarbeitern abreagiert. Übergriffe haben zugenommen, sowohl verbal als auch körperlich. Inzwischen kann es von jedem kommen: Es fängt bei Jugendlichen an, die ihre Macht austesten wollen, bis hin zu Anzugträgern, die sich beschwert haben, weil sie mit dem 9-Euro-Ticket nicht erster Klasse fahren durften.
Auf der Zug-Toilette kommen die Tränen
In Regionalzügen gibt es immer nur einen Zugbegleiter, auf manchen Strecken kein Funknetz und an den kleinen Bahnhöfen auch keine Polizei. Das heißt, dass ich auf mich allein gestellt bin. Wenn etwas passiert, kann ich nur die Lokführerin oder den Lokführer rufen. Und sie oder er kann die Lok oft nicht verlassen. Es gibt Schwarzfahrer und Schwarzfahrerinnen, die wissen genau, wo die Funklöcher sind. Wenn ich sage: „Ich rufe jetzt die Polizei“, wissen sie: So schnell kommt die Polizei nicht.
Ein dunkelhäutiger Mann ohne gültigen Fahrschein hat mich mal Nazischlampe genannt. Was mir aber mehr zu schaffen macht, ist, wenn man mich persönlich beleidigt. Ich bin etwas kräftiger gebaut. Da höre ich: „Beweg deinen fetten Arsch, damit er nicht noch fetter wird.“ Oder: „Deutsche Panzer rollen wieder.“
Nach außen muss ich stark wirken. Ich ziehe meine Schicht durch. Mache weiter. Aber auf dem WC kommen mir manchmal die Tränen. Oder nach dem Dienst, wenn ich die Treppen zu meiner Wohnung hochlaufe.
Das Menschliche kommt abhanden
Manchmal denke ich: Die Fahrgäste sehen uns Bahnmitarbeiter nicht als Menschen. Sie denken nicht daran, dass wir einen Partner oder Kinder haben. Dass wir gesund nach Hause kommen wollen. Dass wir dieselben Probleme haben wie alle anderen und auch nicht wissen, wie wir die hohe Stromrechnung bezahlen sollen. Wir versuchen, bestmöglich unseren Job zu machen, aber wir können nur mit dem arbeiten, was da ist. Wenn der Zug kaputt ist, der Anschluss verpasst wurde oder Graffitisprayer die Gleise blockieren, können wir das nicht ändern.
Das Menschliche geht verloren. Die Rücksichtnahme auf andere. Wenn der Zug hält, weil wir einen Arzt brauchen, stellen manche Fahrgäste das infrage: Muss das sein? Woher wollen Sie denn wissen, dass der einen Arzt braucht? Oder sie schauen ungerührt bei dem Notarzteinsatz zu. Ich habe auch schon gesehen, wie sich eine Frau in einem vollbesetzten Zug die Fußnägel geschnitten hat. Rentner verschütten Sekt im Zug und haben es nicht nötig, ihn wieder aufzuwischen.
Ermittlungen nach Tätern sind oft erfolglos
Am Neujahrsmorgen 2019 hatte ich Dienst und habe einen jungen Mann kontrolliert, der kein Deutsch sprach. Ich sollte ihm sein Ticket erklären, da standen plötzlich seine Freunde auf und kreisten mich ein. Einer riss mir das Ticket aus der Hand. Im Wagen saß nur noch ein alter Mann, sonst war ich ganz allein mit ihnen. Ich habe um Hilfe gebrüllt, da sind sie auseinandergerannt. Der Lokführer hat den Zug angehalten und wir haben auf die Polizei gewartet. Aber auch hier hieß es schlussendlich nur: Die Täter konnten nicht ermittelt werden. Ich habe mich so allein gelassen gefühlt.
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die haben noch nie etwas Blödes erlebt. 30 Jahre im Beruf und höchstens mal eine Kuh auf den Schienen. Und dann gibt es Leute wie mich, die scheinen so etwa anzuziehen. Ich weiß nicht, woran es liegt. An der Aura? Unter Kolleginnen lachen wir darüber. Die anderen sagen: Du hattest schon wieder was? Lass doch auch mal was für uns übrig!
Mir hilft der Zusammenhalt, er tut gut. Mit vielen Kollegen bin ich privat befreundet. Ich engagiere mich in der Gewerkschaft und helfe anderen. Das ist mir wichtig. Ich möchte, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Hin und wieder überlege ich, den Job zu wechseln. Aber wenn ich mir vorstelle, den ganzen Tag in einem Büro oder einem Geschäft zu sein – da käme ich mir eingesperrt vor. Die Schiene ist für mich Freiheit. Ich bin Eisenbahnerin und in der Eisenbahnerfamilie fühle ich mich wohl. Ich möchte durchhalten, solange ich kann.
Aufgezeichnet von Friederike Lübke
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Feindseligkeit gegenüber dem Zugpersonal
Fahrgäste in Zügen greifen Zugbegleiter und Zugbegleiterinnen regelmäßig an – am häufigsten in Form von verbalen Beleidigungen.
Das Bahnpersonal berichtete aber auch von Bedrohungen, Bespucken, körperlichen Angriffen sowie sexuellen Belästigungen. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer in Auftrag gegeben worden war. 781 Zugbegleiterinnen sowie auch mehr als 1600 Lokführerinnen und Lokführer wurden befragt.
Im Vergleich zu der gleichen Befragung mit anderen Personen aus dem Jahr 2016 haben die Angriffe deutlich zugenommen. Im Schnitt gaben die Zugbegleiter diesmal an, 35-mal in einem Jahr beleidigt worden zu sein, vier Jahre davor war es noch 21-mal gewesen. Die Schlussfolgerung: Angriffe durch Fahrgäste führen zu einer „chronischen negativen Beanspruchungssituation“ der Zugbegleiter. Ärger, Wut, Gereiztheit und allgemein ungute Gefühle sind dauerhafte emotionale Begleiter im Alltag des Bahnpersonals.
Weiterhin ergab die Befragung, dass die Präventions- und Nachsorgeangebote der Arbeitgeber – vom Deeskalationstraining bis hin zum Ablösen im Notfall – als nicht ausreichend erlebt werden. Ob die Gesellschaft insgesamt aggressiver geworden ist, lässt sich schwer nachweisen, wie die Konfliktforscherin und Soziologin Teresa Koloma Beck von der Universität der Bundeswehr Hamburg in einem Interview erklärte. In den vergangenen Jahrzehnten sei die Sensibilität für Beleidigungen gestiegen, jedoch wohl nicht die Bereitschaft, andere in Schutz zu nehmen und feindseligen Personen Grenzen aufzuzeigen.
Quellen
Matthias Becker u.a.: „Mit Sicherheit“. Ergebnisse einer bundesweiten Wiederholungsbefragung beim Zugpersonal. Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Frankfurt a.M. 2020
Sabine Hamacher: Ist unsere Gesellschaft aggressiver geworden? Ein Gespräch mit einer Soziologin. Frankfurter Rundschau online, 8.9.2019