Im städtischen Tiefgang

Psychologie nach Zahlen: In der U-Bahn geht es hektisch zu. Hier sind vier untergründige Erkenntnisse über Verhaltensweisen von U-Passagieren.

Die Illustration zeigt einen Mann in der Straßenbahn, der einen Fahrplan im Kopf hat
Eilig zur Arbeit, müde nach Hause oder betrunken zur Party: In der U-Bahn versammeln sich Scharen an Menschen mit unterschiedlichen Intentionen. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Psychologinnen und Psychologen verschlägt es bisweilen an ungewöhnliche Orte. Etwa in die U-Bahn. Seit über einem halben Jahrhundert beobachten Forschende lebensnah das menschliche Verhalten in der Metro, bevorzugt in den großen Metropolen mit ihren vielfältigen Populationen. In Tokio nutzen jeden Tag mehr als acht Millionen Menschen die U-Bahn, in Paris sind es über vier Millionen und in New York etwa fünf Millionen Leute tagtäglich.

Die Fahrt in überfüllten Zügen mit Dutzenden von Fremden in unterschiedlichen Stimmungen mag für die meisten von uns wenig verlockend klingen. Doch die psychologische Forschung stößt ausgerechnet in diesem ungemütlichen Umfeld auf hoffnungsvoll stimmende zwischenmenschliche Verhaltensweisen.

1 New Yorker Hilfsbereitschaft

Der Untergrund ist ein stressiger Ort. Je länger die U-Bahn-Fahrt, desto mehr Stresshormone schütten die New Yorker Fahrgäste aus, wie Gary Evans mit seinem Team beobachtete. Umso bemerkenswerter ist das Ergebnis eines anderen Experiments aus dem Jahr 1969, bei dem die Forschenden auf das Schauspieltalent von Studierenden der Columbia University zurückgegriffen hatten. Diese sollten in einem U-Bahnhof taumeln und zusammenbrechen. In einigen Versuchen taten die Eingeweihten so, als seien sie betrunken. In einem anderen Szenario gaben sie vor, krank zu sein.

Fazit: In den meisten Situationen waren hilfsbereite Fahrgäste zur Stelle. Die Hilfsbereitschaft war dabei umso wahrscheinlicher, je mehr Menschen auf dem Bahnsteig warteten. Womit das Experiment die berühmte Theorie des Zuschauereffekts (bystander effect) auf den Kopf stellte. Dieser Theorie zufolge sind Menschen, die Zeuge oder Zeugin eines Unfalls oder eines kriminellen Übergriffs werden, weniger bereit zu helfen, wenn weitere unbeteiligte Zuschauende zugegen sind: Niemand fühlt sich zum Helfen genötigt – schließlich sind ja andere da und können eingreifen. Aber nicht so in der New Yorker U-Bahn-Studie: Dem vermeintlich betrunkenen Studenten halfen die Umstehenden in 38 von 65 Fällen, dem angeblich Kranken sogar in 62 von 65 Fällen. Meist kamen überdies gleich mehrere Personen zu Hilfe.

2 Pariser Romantik

In den 1970ern schrieb der berühmte Soziologe Erving Goff­man, in der U-Bahn herrsche ein flüchtiger nonverbaler Austausch. Goffman nannte das „zivile Unaufmerksamkeit“: Man schaue kurz hin, nehme andere zur Kenntnis, aber beschäftige sich danach gleich wieder mit sich selbst. Doch Goffman war Amerikaner – das Gebaren von Französinnen und Franzosen in ihrer Pariser Metro war ihm offensichtlich nicht vertraut. Dort nämlich bekundeten die Fahrgäste einander so häufig und intensiv ihre Gefühle, dass der französische Gesetzgeber dem Küssen in Bahnhöfen im Jahr 1910 ein Ende setzen musste. Das Kussverbot auf Pariser Bahnsteigen sei notwendig, weil die Züge aufgrund all der Liebesbekundungen so gut wie nie pünktlich abführen, so hieß es. Doch Paris gilt nicht umsonst auch heute noch als die Stadt der Liebe.

Eine Auswertung von Kleinanzeigen, die Pendler und Pendlerinnen der Pariser Metro heutzutage aufgeben, zeigt: Die Romantik lässt sich aus der Pariser U-Bahn nicht vertreiben. Die häufigsten Kleinanzeigen waren sogenannte croisé dans le métro, was so viel wie „gekreuzte Pfade in der Metro“ bedeutet. Über sie suchten die Metrogäste Kontakt mit einem fremden Menschen, der ihnen während ihrer Fahrt aufgefallen war und ihnen nicht mehr aus dem Kopf ging. „Die Metro ist nicht die emotionale Wüste, für die wir sie manchmal halten“, so der Direktor der Pariser U-Bahn. „Die Metro ist ohne Zweifel ein zentraler Ausgangsort für urbane Liebesgeschichten.“

3 Tokioter Ruhe

In Tokio befinden sich die verkehrsreichsten U-Bahnhöfe der Welt. Dort führte das Fahrgastaufkommen in Millionengröße über Jahre hinweg zu Unfällen und bisweilen lebensgefährlichen Verletzungen. Die häufigsten Gründe: Die Passagiere waren gestresst und zerstreut und hatten es natürlich auch eilig. Ihren ungeduldigen Fahrgästen begegnete die japanische Bahn mit Psychologie: Mit kurzen und angenehmen Melodien sollten die Gäste beruhigt und ihnen das Gefühl der Eile genommen werden. Diese U-Bahnhof-Melodien sind mittlerweile ein eigenes Genre in Japan. Sie werden unter anderem hassha und eki-melo genannt und sorgen nunmehr seit Jahren dafür, dass Unfälle und Verletzungen immer weiter zurückgehen.

Japanische Untersuchungen haben gezeigt, dass auf den Bahnsteigen sogar Sieben-Sekunden-Melodien einen positiven Effekt haben – sie verringern Stress und Unruhe der Fahrgäste. Deshalb setzt die japanischen Bahn heute grundsätzlich Melodien ein, die deutlich kürzer als normale Lieder sind. Viele Stationen haben sogar ihre eigenen, individuellen Klänge. So wecken die sanften Töne auch ein Gefühl der Vertrautheit. Zudem setzen die Bahnbetreiber strategisch blaue LED-Lampen auf den Stationen ein. Japanische Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass bestimmte Blautöne ebenfalls beruhigend wirken und die positive Stimmung der vielen Fahrgäste fördern.

4 Vorstädtische Kontaktfreude

In einer amerikanischen Studie untersuchten Forschende die Bereitschaft von Fahrgästen, einen Blickkontakt mit ihren Mitreisenden aufzunehmen. Die Untersuchung fand sowohl in Philadelphias Innenstadt als auch in den Vororten der Metropole statt. In der City waren die Pendler und Pendlerinnen deutlich desinteressierter: Lediglich 13 Prozent der U-Bahn-Befragten im Innenstadtgebiet zeigten Interesse an den anderen Fahrgästen. In den Vororten waren es dagegen vormittags rund dreimal und am Abend immerhin doppelt so viele.

Die Forschenden deuten das Verhalten der innerstädtischen Passagiere nicht als Unhöflichkeit, sondern vielmehr als eine Reaktion auf die Fülle von zwischenmenschlichen Signalen und anderen Informationen, die es in den größeren U-Bahnhöfen zu bewältigen gilt. Ihr Rückzug aus dem sozialen Geschehen um sie herum sei ein natürlicher adaptiver Vorgang. Das liege weniger an dem engen Raum als an der Anzahl von Menschen – die Metro in den Vororten sei diesbezüglich deutlich angenehmer. Dort sind die U-Bahnen weniger frequentiert und wirken dadurch beschaulicher, was das zwischenmenschliche Interesse stärker aufleben lässt.

Aber ob Innenstadt oder Vorort: Laut einer U-Bahn-Studie von Forschenden in Chicago hatten Menschen, die sich auftragsgemäß auf etwas Smalltalk mit anderen Fahrgästen eingelassen hatten, danach bessere Laune und einen schöneren Tag.

Quellen

G. W. Evans, R. E. Wener: Rail commuting duration and passenger stress. Health Psychology, 25/3, 2006, 408–412. https://doi.org/10.1037/0278-6133.25.3.408

I. M. Piliavin, J. Rodin, J. A. Piliavin: Good Samaritanism: An underground phenomenon? Journal of Personality and Social Psychology, 13/4, 1969, 289–299. https://doi.org/10.1037/h0028433

C. McCauley, G. Coleman, P. De Fusco: Commuters' eye contact with strangers in city and suburban train stations: Evidence of short-term adaptation to interpersonal overload in the city. J Nonverbal Behav, 2, 1978, 215–225. https://doi.org/10.1007/BF01173770

Nicholas Epley, Juliana Schroeder: Mistakenly Seeking Solitude. Journal of Experimental Psychology: General, 143/5, 2014, 1980 –1999. https://doi.org/10.1037/a0037323

Michiko Ueda, Yasuyuki Sawada, Tetsuya Matsubayashi: Does the installation of blue lights on train platforms prevent suicide? A before-and-after observational study from Japan. Journal of Affective Disorders, 147/1-3), 2013, 385-388. https://doi.org/10.1016/j.jad.2012.08.018

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