Herr Kalisch, was ist das: Resilienz?
Resilienz bedeutet einfach: Obwohl ich schweren Belastungen ausgesetzt war, bleibe ich gesund. Es handelt sich also um die Aufrechterhaltung oder rasche Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während oder nach schwierigen Lebensereignissen oder schwierigen Lebensumständen – Trennungssituationen, Stress bei der Arbeit, was auch immer.
Ist diese Resilienz in allen Arten von Stresssituationen gleich? Sprich: Ist man auf Beziehungsstress genauso resilient wie auf Arbeits- oder gar den Coronakrisenstress?
Wir haben noch Anfang 2019 gedacht, dass das eher unwahrscheinlich ist. Jetzt aber haben wir in der Coronakrise eine Studie gemacht, in der wir genau das getestet haben. Wir kennen aus früheren Forschungen zu verschiedenen Spielarten von Krisen ein Set von Resilienzfaktoren, die sich günstig auswirken. Und in dieser Coronakrise sind die auch effektiv, obwohl diese Krise ja ganz anders ist als andere Herausforderungen. Es handelt sich zum Beispiel um eine kollektive Krise, mit der wir alle irgendwie zu kämpfen haben. Der Gegner ist unheimlich und nicht so richtig zu sehen und zu greifen. Dazu kommt die soziale Isolation. Und letztlich vermischen sich die Krankheitsängste mit wirtschaftlichen Ängsten. Das ist alles sehr seltsam. Trotzdem scheinen die üblichen verdächtigen Resilienzfaktoren auch jetzt zu funktionieren.
Was sind das für Faktoren?
Erstens eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, also das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit auch unter extremen Belastungen. Zweitens: Optimismus. Drittens: die soziale Unterstützung durch Familie und Freunde, die ich wahrnehme. Und für uns ganz wichtig ist der positive Bewertungsstil, kurz PAS genannt, für positive appraisal style. Das ist generell die Art und Weise, wie ich negative Ereignisse betrachte.
Darauf gehen wir später detaillierter ein. Aber zunächst: Komme ich mit einem individuellen Resilienzlevel auf die Welt?
Nein. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen handelt es sich nicht um ein Phänomen, das von einem bestimmten Wesensmerkmal determiniert wird. Es wird auch nicht von Genen diktiert oder einem Strukturmerkmal des Gehirns. Es ist kein in Stein gemeißeltes Persönlichkeitsmerkmal. Im Gegenteil: Resilienz ist im Fluss und kann sich wandeln. Durch Erfahrungen, durch Inspiration, durch eigenes Ausprobieren.
Aber manche Leute fallen schon bei einem leichten Gegenwind um, während andere in der Krise eine Schippe drauflegen. Wie kommt das?
Es gibt Menschen mit so vielen starken Risikofaktoren, dass sie es schwerer haben. Wir kennen zum Beispiel Menschen mit dem stabilen Persönlichkeitsmerkmal des Neurotizismus – also einer emotionalen Instabilität beziehungsweise schlechten Emotionsregulation. Menschen, die das stark ausgeprägt haben, sind schon anfällig für geringere Resilienz. Umgekehrt kann man sagen: Wer in seinem Elternhaus gute Vorbilder hatte und so von klein auf gelernt hat, mit Emotionen gut umzugehen, der hat es leichter. Und wer bestimmte genetische Risikofaktoren nicht hat, der auch. Das Schicksal geht schon unterschiedlich mit uns um.
Kann dennoch jeder resilient werden?
Ja, grundsätzlich kann es jeder werden. Zum einen wissen wir aus vielen Studien: Wir Menschen sind prinzipiell eine resiliente Spezies. Denn die normale Antwort auch auf eine schwere Traumatisierung ist, dass die meisten Menschen gesund bleiben, dass sie eben keine posttraumatische Belastungssstörung, Depression oder Angststörung entwickeln. Das spricht schon dafür, dass diese, sagen wir: Resilienzkräfte oder -fähigkeiten sehr vielen Menschen zur Verfügung stehen.
Das vollständige Interview mit Raffael Kalisch lesen Sie in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Die Seele stärken: Für sich einstehen – Resilienter werden – Zuversicht schöpfen