Psychologen und Psychotherapeuten sorgen sich, weil in Deutschland im Zusammenhang mit der Coronakrise ein Stimmungswandel drohe – dieser könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die aktive Mitarbeit der Bevölkerung an den weiterhin notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise untergraben. Dies schreiben die Vorsitzenden von vier psychologischen Fachgesellschaften, Dietrich Munz (Bundespsychotherapeutenkammer), Birgit Spinath (Deutsche Gesellschaft für Psychologie), Meltem Avci-Werning (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen) und Michael Bosnjak (Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation) in einem im Juni 2020 veröffentlichten Positionspapier. Die Autoren plädieren eindringlich dafür, an die bisherige Erfolgsgeschichte bei der Bekämpfung des Virus anzuknüpfen und das Ziel der weiteren Eindämmung nicht aus den Augen zu verlieren.
Sorglosigkeit im Umgang mit der Ansteckungsgefahr und das Auftreten von Verschwörungserzählungen seien „ernste Warnsignale“ dieser Entwicklung. Hintergrund dafür seien die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Motivation, Informationsverarbeitung sowie die psychische Verarbeitung von Belastungserfahrungen. Diese Gesetzmäßigkeiten erschweren es, mit der Krise angemessen umzugehen. Dies reiche von unrealistischer Risikowahrnehmung – so hielten wir uns selbst für weniger anfällig für COVID-19 als andere Personen unseres Alters – bis hin zur Kurzfristigkeit unseres Denkens: Es sei dadurch gesteuert, dass es aktuell wenige Infizierte gebe, aber die langfristigen Folgen unseres Handelns haben wir weniger im Blick - was in der Krise ungünstig ist.
Zusätzlich seien die persönlichen Kosten und der gesellschaftliche Nutzen der Maßnahmen ungleich verteilt. Bei ohnehin schon sozial und ökonomisch benachteiligten und daher stärker betroffenen Gruppen bestehe das Risiko, dass sich bei ihnen dysfunktionale Einstellungen zu den eigenen Lebenschancen und Ungerechtigkeit weiter verfestigen und über die Generationengrenzen hinweg weitergegeben würden. Die Autoren warnen zudem, dass die Akzeptanz der Bevölkerung bei einem möglichen weiteren Lockdown eine besondere psychologische Herausforderung darstelle, denn es seien bereits negative Erfahrungen mit den Folgen der Pandemie gemacht worden.
Ziel: Kollektives Erfolgserlebnis
Der Fokus in der Kommunikation aller Maßnahmen gegen die Pandemie müsse auf dem liegen, was Menschen selbst tun könnten. Eine Suche nach Bestätigung in Verschwörungserzählungen gehört jedoch laut des Papiers nicht dazu, denn dies könne dauerhaft negative Emotionen auslösen. Der Umgang mit Verschwörungserzählungen berge potenzielle politische Herausforderungen und erfordere besonderen Interventionsbedarf, schreiben die Autoren.
Professionelle soziale und psychologische Hilfsangebote müssten darüber hinaus aufrechterhalten oder ausgebaut und der Zugang verbessert werden. Das Ziel sei, abhängig von der gesundheitlichen und psychischen Verfassung der Adressaten, Resilienz zu stärken, Angst und Sorgen zu reduzieren und Chronifizierungen zu vermeiden, heißt es weiter. Um langfristig allzu negative psychische Folgen durch die Coronakrise abzufedern, komme es darauf an, dass die gegenwärtigen Ereignisse im Nachhinein als „kollektives Erfolgserlebnis“ gesehen werden könnten. Wenn das gelinge, würden sich die langfristigen psychischen Folgen der Krise in Grenzen halten lassen.
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID): Herausforderungen, Ziele und Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie aus psychologischer Sicht. Positionspapier, Juni 2020.