Herr Kindermann, die Universitätsklinik Heidelberg bietet in der Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in Heidelberg seit 2016 eine psychosoziale Ambulanz an. Wer kommt zu Ihnen?
Wir sind ein Team aus Psychosomatikerinnen und Psychosomatikern, Psychiaterinnen und Psychiatern sowie Psychologinnen und Psychologen und bieten an drei Tagen in der Woche eine psychosoziale Sprechstunde für die Geflüchteten an. Die geflüchteten Menschen, die in unserer Ambulanz Hilfe suchen, stammen aus sehr unterschiedlichen Ländern, das Spektrum reicht von Afghanistan, Syrien, Irak, Marokko bis Gambia. Das Durchschnittsalter der von uns behandelten Patienten liegt ungefähr bei 30 Jahren und es sind etwa 60 Prozent Männer und 40 Prozent Frauen. Wir haben festgestellt, dass etwa 40 Prozent der in unserer Ambulanz vorstelligen Patientinnen und Patienten Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen.
Einige haben nicht nur in ihrem Heimatland Krieg, Gewalt, Folter erlebt, sondern zusätzlich auf der Flucht beispielsweise Gewalt und Misshandlungen an Grenzübergängen erfahren, oder mitbekommen, wie Familienangehörige ertrunken sind. Auch die Unterbringung in den Erstunterkünften in Deutschland kann für die Geflüchteten unter Umständen eine hohe psychische Belastung bedeuten. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass etwa 30 Prozent aller nach Deutschland kommenden Geflüchteten unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Bei uns kommen die meisten aus eigener Initiative in unsere psychosoziale Ambulanz – einige werden auch auf Empfehlung von Beratungsstellen oder Hilfsorganisationen zugewiesen.
Wie entsteht eine posttraumatische Belastungsstörung?
Sie kann entstehen, wenn eine Person einem oder mehreren traumatischen Ereignissen ausgesetzt ist. Dabei handelt es sich um Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß. Das kann beispielsweise das Erleben von schweren körperlichen Verletzungen, sexuellem Missbrauch oder auch die Bedrohung mit dem Tod sein. Auch kann das Miterleben von schweren Misshandlungen, Gewalt oder der Tod bei anderen Menschen zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer sogenannten PTBS, führen. Sind diese Ereignisse von Menschen verursacht, wie bei Kriegen, bei politischer oder ethnischer Verfolgung oder sexueller Gewalt, führt dies im Verlauf deutlich häufiger zu einer posttraumatischen Belastungsstörung als etwa nach einer Naturkatastrophe oder einem Unfall. Und je länger die Menschen etwa einem Krieg ausgesetzt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Verlauf eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.
Was passiert, wenn man einem solchen Ereignis ausgesetzt ist?
Direkt nach dem Ereignis leiden viele Betroffene unter einem Gefühl der Betäubung, unter Desorientiertheit und zum Teil auch dissoziativen Symptomen wie Depersonalisation oder Derealisation. Bei der Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis sind die basalen, psychischen Bewältigungsmechanismen überfordert, sodass das Erlebte nicht als normale, verbalisierbare Erinnerung ins autobiographische Gedächtnis gespeichert werden kann, sondern in Form eines separaten Erinnerungssystems unintegriert und kontextlos zurückbleibt. Diese abgespaltenen Erinnerungsengramme scheinen dabei vor allem in älteren Regionen des Gehirns abgelegt zu sein. Das traumatische Ereignis ist somit nicht verbalisierbar und macht sich immer wieder durch plötzliche Wiedererinnerungen bemerkbar.
Wie äußern sich posttraumatische Symptome?
Bei der posttraumatische Belastungsstörung unterscheiden wir drei Hauptsymptome. Das erste ist das Auftreten von Intrusionen: Das können zum Beispiel sich plötzlich aufdrängende Bilder, Alpträume oder sensorische Eindrücke wie Geräusche oder Gerüche sein. Häufig werden sie durch Wahrnehmungen oder Erlebnisse ausgelöst oder „getriggert“, die den sensorischen Gegebenheiten des ursprünglichen traumatischen Ereignisses ähneln. Das Auftreten von intrusiven Wiedererinnerungen kann die betroffene Person nicht kontrollieren und ist gerade dadurch oft sehr belastet.
Zweitens versuchen Menschen mit einer PTBS, mit dem Trauma in Verbindung stehende Situationen, Orte, Kontakte zu vermeiden, um nicht erneut erinnert zu werden. Und sie vermeiden häufig auch eigene Gefühle wie Angst oder Trauer. Das dritte Hauptsymptom ist eine extreme innere Anspannung, die wir als Hyperarousal bezeichnen und die sich in Form von Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit und Nervosität äußert. Sie bleibt Tag und Nacht bestehen, Entspannung ist kaum möglich. Weitere psychische Symptome oder Störungen, die sich in der Folge einer psychischen Traumatisierung ausbilden können, sind depressive Störungen, Angststörungen, hier vor allen Dingen die Panikstörung, und somatoforme Störungen, also das Auftreten unspezifischer Körpersymptome ohne, dass körperliche Ursachen gefunden werden können. Schließlich kann sich auch eine Suchterkrankung entwickeln, wenn die Betroffenen versuchen, sich selbst zu helfen, indem sie Alkohol trinken, Medikamente oder illegale Drogen einnehmen.
Die Menschen, die zu Ihnen in die Ambulanz kommen, sind oft erst relativ kurze Zeit in der Erstaufnahmestelle und wissen noch nicht, ob sie bleiben können. Wie können sie ihnen helfen?
Im Rahmen eines ausführlichen Erstgesprächs versuchen wir zunächst einen Raum für Verzweiflung und Ängste zu geben. Zusätzlich bieten wir imaginative Stabilisierungsübungen, wie beispielsweise den „inneren sicheren Ort“ an. Dadurch kann in vielen Fällen bereits eine erste psychische Stabilisierung erreicht werden. Ein Ziel dabei ist beispielsweise, dass sich die aufdrängenden Bilder und Gedanken etwas besser kontrollieren lassen. Die Stabilisierung ist für die Behandlung traumatischer Ereignisse wesentlich, sie sollte stets die erste Therapiephase im Rahmen einer Traumatherapie sein. Bei Bestehen erheblicher innerer Anspannung, Angstzuständen oder Schlaflosigkeit bieten wir außerdem eine an den Leitlinien orientierte medikamentöse Unterstützung an. Sie soll vor allem zur Überbrückung dienen, bis die äußeren Voraussetzungen für eine adäquate Psychotherapie gegeben sind.
Sprechen Sie mit den Betroffenen über das Trauma oder die das Trauma auslösenden Ereignisse?
Wir versuchen, traumatische Ereignisse im Kontext der Anamnese zunächst sehr vorsichtig und eher peripher zu erheben, ohne in Details zu gehen. Das gelingt oft gut. Es kann aber auch vorkommen, dass eine psychische Traumatisierung so massiv war, dass wir in den ersten Kontakten nicht darauf eingehen. Das merken wir dann daran, dass sich bei der betroffenen Person im Gespräch plötzlich die Anspannung noch verstärkt, sie zu zittern beginnt oder plötzlich wie weggetreten wirkt. Die Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis sollte stets in einem sicheren Umfeld, nach adäquater Stabilisierung und im Rahmen einer vertrauensvollen psychotherapeutischen Behandlung erfolgen.
Wie oft kommen die Menschen zu Ihnen in die Ambulanz?
Wir versuchen nach dem Erstgespräch nach Möglichkeit immer Folgetermine anzubieten. Manche Geflüchtete kommen jedoch nur ein oder zwei Mal in unsere psychosoziale Sprechstunde, da sie zum Teil bereits früh in eine andere Unterkunft verlegt werden. Bei den Folgeterminen prüfen wir, ob die Symptome schon etwas zurückgegangen sind, die Stabilisierungsübungen nützlich waren oder die Medikamente hilfreich sind. Eine langfristige psychotherapeutische Behandlung ist aufgrund des oftmals unsicheren Aufenthaltsstatus und des damit einhergehenden Fehlens von äußerer Sicherheit zu diesem frühen Zeitpunkt in den meisten Fällen kaum möglich. Und das ist auch ein zentrales Problem für unsere Patientinnen und Patienten: Die große Unsicherheit, ob ihr Asylantrag positiv entschieden wird und sie in Deutschland bleiben können. Gleichzeitig ist das Vorliegen eines sicheren Aufenthaltsstatus in vielen Fällen eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine psychotherapeutische Behandlung gelingen kann.
Wie können Sie die Geflüchteten im weiteren Asylprozess unterstützen?
Jede und jeder Geflüchtete, der unsere psychosoziale Sprechstunde aufgesucht hat, erhält im Anschluss einen ausführlichen Arztbrief, in dem Symptome, Diagnosen sowie Therapieempfehlungen enthalten sind. Außerdem versuchen wir den Geflüchteten auch Informationen über die Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten im deutschen Gesundheitssystem zu vermitteln, die es leichter machen sollen, sich auch mittelfristig hinsichtlich der verschiedenen Behandlungsangebote zu orientieren.
Kann man eines oder mehrere Traumata durch Krieg, Gewalt und Flucht überhaupt überwinden?
Das Ziel einer Traumatherapie ist nicht, die traumatischen Erlebnisse zu „vergessen“ oder aus dem Gedächtnis zu „löschen“. Sie werden immer Teil der eigenen Biografie sein. Was aber möglich ist: Die abgespaltenen traumatischen Erinnerungen in das normale, autobiographische Erinnerungssystem zu integrieren, so dass die Ereignisse versprachlicht werden können. Auf der anderen Seite, und etwas technisch gesprochen, ist das Ziel einer Traumatherapie natürlich auch immer eine möglichst weitreichende Reduktion der Symptome und das Zurückgewinnen von Kontrolle und Selbstwirksamkeit im Leben.
Gibt es Schutzfaktoren, die die Auswirkungen von traumatischen Ereignissen lindern können?
Der wichtigste Schutzfaktor ist die soziale Unterstützung. Wer gut sozial eingebunden ist, hat ein geringeres Risiko für schwere Symptome oder die Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dazu gehört insbesondere auch die Anerkennung des Leids der Betroffenen und die Solidarität der Mitmenschen. Dies scheint mir auch gerade im Hinblick auf die nun aus der Ukraine flüchtenden Menschen von großer Bedeutung zu sein.
David Kindermann ist Oberarzt der Traumaambulanz und der Geflüchtetenambulanz der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik an der Universitätsklinik Heidelberg