Immer mehr Heranwachsende erkranken an Depressionen. Wie erkennen Eltern, ob ihr Kind Hilfe braucht? Und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Darüber sprechen wir mit dem Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut Prof. Dr. Michael Kölch und der Schulpsychologin Dr. Viktoria Munk-Oppenhäuser am 19. September 2023 in einer digitalen Psychologie Heute-live!-Veranstaltung. Melden Sie sich gerne hier an.
Wie zeigt sich eine Depression?
Bei Dörte begann es schleichend: Zuerst war da die Sorge, im Homeschooling den Schulstoff nicht zu schaffen. Dann fehlten ihr auch die Treffen mit ihren Freundinnen und der Sport im Verein. Irgendwann war es ihr egal, ob sie morgens aufsteht. Außerdem war sie sowieso müde, weil sie nachts immer länger im Netz surfte und chattete. Und irgendwann war auch die Schule gleichgültig. Mit den Eltern gab es immer mehr Streit: Sie hatte das Gefühl, nie etwas richtig machen zu können. Und dann kamen die Gedanken, ob es nicht vielleicht egal wäre, wenn sie gar nicht mehr leben würde. Diese Gedanken kamen immer häufiger.
So oder so ähnlich klingen Berichte von Jugendlichen, die wegen einer Depression zum Arzt oder zur Psychotherapeutin gehen, schreibt Prof. Dr. Michael Kölch, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an der Universität Rostock in PH Compact.
Leiden mehr Kinder und Jugendliche unter Depressionen?
Seit der Pandemie stellten deutsche und internationale Studien einen deutlichen Anstieg an Diagnosen fest. Allerdings zählten depressive und emotionale Störungen wie etwa Angst schon vor der Pandemie zu den häufigen psychiatrischen Erkrankungen bei jungen Menschen. Bereits 2019 waren Depressionen der häufigste Grund, warum Jugendliche im Krankenhaus behandelt wurden. Vor der Pandemie wurde bei 15,2 von 1000 Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 17 Jahren eine Depression diagnostiziert, zeigt der Kinder- und Jugendreport 2019 der DAK.
Im Jahr 2022 erhöhte sich die Zahl der stationär behandelten Minderjährigen mit dieser Diagnose um 39 Prozent. Die Deutsche Depressionshilfe geht davon aus, dass rund 1 Prozent der Kinder im Vorschulalter und 2 Prozent im Grundschulalter betroffen sind. Derzeit erkranken etwa 3 bis 10 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren. Das Krankheitsbild tritt erstmals häufiger in der Pubertät auf als in den Jahren davor. Stationär behandelte Depressionen sind im Jugendalter (15 bis 17 Jahre) mehr als viermal so häufig wie unter Schulkindern (10 bis 14 Jahre).
Was könnte zur Zunahme geführt haben?
Der Anstieg an depressiven Symptomen während der Pandemie lässt sich unter anderem durch den Verlust von positiven Verstärkern erklären, beispielsweise von Erfolgserlebnissen, angenehmen Sozialkontakten und erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf der anderen Seite standen oft erhöhter Stress aufgrund schlechterer Schulleistungen durch Homeschooling oder die öffentlich geschürte Angst, einer verlorenen „Generation Corona“ anzugehören.
Zusätzlich trugen hohe Belastungen wie die Isolation während der Lockdowns zur Krankheitsentstehung bei. Dem widerspricht nicht, dass ein Teil der Jugendlichen erst dann Symptome entwickelte, als sich der Alltag dem Anschein nach wieder normalisiert hatte. Leistungsprobleme in der Schule, aber auch Mobbing oder sozialer Stress traten nun wieder verstärkt auf und addierten sich mit den vorherigen negativen Erfahrungen.
Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede?
„Mädchen neigen eher zu internalisierenden psychischen Störungen als Jungen. Sie ziehen sich beispielsweise mit Depressionen und Ängsten eher in sich zurück“, erklärt der Präsident des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte, Thomas Fischbach gegenüber dem „Ärzteblatt“. „Jungen zeigen tendenziell häufiger ein Verhalten, das nach außen gerichtet ist, also zum Beispiel aggressive Verhaltensmuster.“ Stationär behandelte Depressionen sind laut dem DAK Jugendreport 2023 bei jugendlichen Mädchen im Jahr 2022 gegenüber 2019 um 24 Prozentgestiegen. Im Jahr 2022 wurden jugendliche Mädchen fast fünf Mal häufiger stationär behandelt als gleichaltrige Jungen.
Worin liegen die Krankheitsursachen?
Depressionen bei Kindern und Jugendlichen sind ein typisches Beispiel, wie komplex die Entstehung von psychischen Störungen ist und wie sehr Umweltfaktoren dazu beitragen. Es gibt genetische Faktoren, die das Risiko für eine Erkrankung erhöhen. Jedoch spielen auch schlechte Erfahrungen in der Kindheit eine Rolle, beispielsweise Vernachlässigung oder Mobbing in der Schule. Belastende Erfahrungen und Stress können über epigenetische Mechanismen Depressionen befördern; das bedeutet, dass manche genetische Veranlagung erst durch negative Erlebnisse zum Tragen kommt.
In Untersuchungen wie der Magnetresonanztomografie wurden bei depressiven Patientinnen und Patienten neurobiologische Veränderungen im Bereich der Emotionen und der Motivation entdeckt. Eine Studie der Universität von St. Louis hat gezeigt, dass das Belohnungssystem im Gehirn von Jugendlichen bereits Jahre vor dem Auftreten einer Depression negativ verändert war.
Die Auslöser für eine Depression sind vielfältig: „In den klassischen Gymnasien beobachten wir eine große Versagensangst unter den Schülerinnen und Schülern, die gar nicht unbedingt nur von den Pädagogen aufgebaut wird, sondern auch von den Familien und den Jugendlichen selbst kommt“, sagt Schulpsychologin Viktoria Munk-Oppenhäuser. Aber auch Mobbingerfahrungen – über die Sozialen Medien viel weitreichender als früher – oder verunsicherte Eltern können zu krisenhaften Situationen beitragen.
Wird die Krankheit rechtzeitig diagnostiziert?
Depressionen werden bei Kindern und Jugendlichen nicht selten übersehen und nicht behandelt, selbst wenn deutliche Anzeichen vorhanden sind, sagt Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Katharina Bühren: „Auch ernste Symptome einer Depression wie Freudlosigkeit oder Niedergeschlagenheit werden bei Kindern im Teenageralter häufig als eine Phase fehlinterpretiert, die zur Pubertät gehört“, erklärt die Expertin der Stiftung Kindergesundheit in einer Pressemitteilung.
Welche Symptome können auf eine Depression hinweisen? In der Forschung ist die früh auftretende Reizbarkeit der Stimmung in den Fokus gerückt. Sie wird auch affektive Dysregulation genannt. In der Pubertät zeigt sich ein Anstieg von depressiven Störungen. Allerdings sind einige Phänomene wie Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Interessenverlust („Null-Bock-Stimmung“) typisch für Jugendliche und keineswegs mit einer psychischen Erkrankung gleichzusetzen.
Wie lange warten Patientinnen und Patienten auf einen Therapieplatz?
Laut einer Studie der Universität Leipzig unter niedergelassenen Kinder- und Jugendtherapeuten und -therapeutinnen, wartet man hierzulande durchschnittlich 25 Wochen auf einen ambulanten Therapieplatz – eine Verdopplung der Wartezeit seit der Pandemie. Auch die Wartezeit auf ein therapeutisches Erstgespräch, so Studienleiter Prof. Dr. Julian Schmitz, habe sich von fünf auf zehn Wochen verlängert. Schwierig sei die Situation in ländlichen Gebieten, dort können die Wartezeiten noch länger sein.
Im digitalen Psychologie Heute live!-Event sprechen wir mit den Experten darüber, an welche Anlaufstellen sich Eltern darüber hinaus noch wenden können Wir diskutieren, welche weiteren Auslöser zu Depressionen beitragen, wie Eltern „normales“ Rückzugsverhalten in der Pubertät von einer Depression unterscheiden können und welche Therapieformen es gibt.
Hinweis: Befinden Sie sich in einer akuten Krise, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt, an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222
Mehr über den Referenten Prof. Dr. Michael Kölch
Kölch ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin Rostock. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie ist zudem stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er gilt als Experte für Stress- und Traumata bei Heranwachsenden. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Fehlentwicklungen und Interventionsmöglichkeiten von sogenannten Problemkids und betreibt Verlaufsforschung von Kindern psychisch kranker Eltern. Der Universitätsprofessor ist an verschiedenen Projekten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie beteiligt.
Mehr über die Referentin Dr. Viktoria Munk-Oppenhäuser
Dr. Viktoria Munk-Oppenhäuser ist Diplom-Psychologin und Dozentin an der FSU Jena und der Universität Erfurt. Seit 2002 ist sie Referentin für Schulpsychologie an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen. Dr. Munk-Oppenhäuser ist derzeit Referatsleiterin „Schulentwicklung, Lehrerbildung, Schulpsychologischer Dienst“ am Staatlichen Schulamt Ostthüringen. Sie ist zertifizierte Notfallpsychologin und arbeitet als Supervisorin und Coach.
Anmeldung zum Live-Talk am 19. September 2023
Das 90-minütige Psychologie Heute live!-Event startet am 19. September 2023 um 19 Uhr auf der Plattform Zoom und richtet sich an alle Interessierten. Die Teilnahmegebühr beträgt 15 Euro. Bestellen Sie hier Ihr Ticket. Während der Veranstaltung können Sie Ihre Fragen direkt im Chat stellen. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!
Quellen:
DAK Kinder- und Jugendreport 2023, zuletzt abgerufen am 6.9.202
Deutsche Depressionshilfe, zuletzt abgerufen am 6.9.2023
Gerd Schulte Körne: Depressionen bei Kindern und Jugendlichen oft zu spät erkannt und behandelt. Monatsschrift Kinderheilkunde, 3/2023
Statistisches Bundesamt Destatis, zuletzt abgerufen am 6.9.2023 Stiftung Kindergesundheit, zuletzt abgerufen am 6.9.2023
Stiftung Kindergesundheit, zuletzt abgerufen am 6.9.2023
Maria Plötner u.a.: Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die Psychotherapie, 67, 2022, 469-477.
Ärzteblatt, zuletzt abgerufen am 6.9.2023
Brent I. Rappaport u.a.: Brain Reward System Dysfunction in Adolescence: Current, Cumulative, and Developmental Periods of Depression. The American Journal of Psychiatry, 177/8, 2020, 754-763 DOI: 10.1176/appi.ajp.2019.19030281