Herr Newen, Sie sagen, dass es ein Stück weit notwendig und gut ist, dass wir uns in uns selbst täuschen. Warum?
Aus einer Selbstüberschätzung, die noch realistisch ist, kann die Motivation erwachsen, ein Ziel zu erreichen. Wenn ich also denke, dass ich durchaus in der Lage bin, einen Marathon zu laufen, aber weiß, dass dafür ein längeres Training nötig sein wird, und mich darauf einstelle, ist es eine realistische Vision.
Die meisten von uns haben ein positives Selbstbild. Trotzdem brauchen wir korrigierende Erfahrungen. Warum?
Ja, die meisten sehen sich selbst positiv, aber auch ihr Umfeld, ihre Freundinnen und Freunde, ihre Bekannten. Diese gute Meinung ändern wir von allein fast nie. Wir wollen unser positives Selbstbild nicht gefährden. Am Beispiel des Marathons: Vielleicht habe ich eine Arthrose im Knie und ich merke, dass mehr als zehn Kilometer nicht drin sind. Doch ich trainiere trotzdem weiter, bis zur Operation. Dann habe ich die korrigierende Erfahrung des Schmerzes aufgrund der Arthrose nicht angenommen und mein Knie ruiniert.
Oder: Der De-facto-Alkoholiker glaubt jahrelang, er trinke „doch eigentlich nicht so viel“, bis er seinen Job verliert. Andere verrennen sich aus Selbsttäuschung heraus in schräge Überzeugungssysteme und werden völlig resistent gegen korrigierende Erfahrungen wie beim Verschwörungsdenken.
Sie beschreiben vier kognitive Strategien, mit denen wir verhindern, dass unser positives Selbstbild gefährdet wird. Welche sind das?
Wenn ich eine Prüfung nicht bestehe, aber mich auf dem Gebiet eigentlich für gut halte, kann ich zu der Überzeugung kommen: Ich hatte nur einen schlechten Tag – das ist die erste Strategie, die neue Überzeugungseinbettung. Ich kann zweitens versuchen, weiterer Evidenz auszuweichen, dass ich vielleicht doch Schwächen habe, indem ich mich beispielsweise nicht bei der Professorin erkundige, wo meine Probleme lagen – das Vermeiden von Evidenz. Ich kann die Evidenz zurückweisen und denken: Sie hat mich ohne Grund zu schlecht bewertet: Zweifel an der Evidenz.
Für die vierte Strategie habe ich ein anderes Beispiel: Ein Student ist in eine Frau verliebt, für die er nur ein Kumpel ist. Weil er so verliebt ist, bewertet er jede freundliche Geste von ihr als Zeichen ihrer Verliebtheit. Wir nennen das Schaffen von Evidenz aus mehrdeutiger Lage. Das Verhalten der Frau wird zur Verliebtheit umgedeutet, weil es nicht eindeutig als Ablehnung interpretiert werden kann.
Sie sagen, dass in Russland Selbsttäuschung aktuell sehr verbreitet ist. Wie meinen Sie das?
Viele Menschen in Russland sind nicht nur von Informationen abgeschnitten, sondern sie verstehen die Welt schon länger mit der unerschütterlichen Überzeugung, dass Russland ein friedliches Land sei mit moralisch integrem Militär; dieses Bild wurde ihnen seit jeher von russischen Medien vermittelt. Zur Abwehr werden alle Strategien angewendet, beispielsweise wird der Angriff auf die Ukraine in die russische Sichtweise einer „Entnazifizierung“ eingebettet.
Die psychologische Tendenz zur Selbsttäuschung wird von Putin systematisch verstärkt: Russische Kritiker werden als „Abschaum“ bezeichnet, „von dem man sich reinigen muss“ – ein typischer Zug aller Diktaturen, damit keine korrigierenden Erfahrungen die Selbsttäuschung über den Angriffskrieg gefährden. So können zunächst harmlose Selbsttäuschungen wie die Annahme, man sei ein friedliches Land, in eine ideologische Abschottung münden.
Albert Newen ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
Literatur:
Francesco Marchi, Albert Newen: Self-deception in the predictive mind: cognitive strategies and a challenge from motivation. Philosophical Psychology, 2022. DOI: 10.1080/09515089.2021.2019693.