Warum verspricht Achtsamkeit mehr, als sie zu bieten hat?

Achtsamkeit verspricht schnelle Abhilfe – bei allem und überall. Jacob Schmidt sieht es problematisch, dass das Konzept keine Grenzen mehr kennt.

Die Illustration zeigt den Psychologen, Dr. Jacob Schmidt
Dr. Jacob Schmidt studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Herr Schmidt, Achtsamkeit hat Konjunktur – viele Menschen haben achtsamkeitsbasierte Verfahren für sich entdeckt. Warum behaupten Sie in Ihrem Buch, dass Achtsamkeit mehr verspricht, als sie zu bieten hat?

Achtsamkeit ist zu einer Lösung für alles geworden, zu einer Art Schweizer Taschenmesser: Egal ob Schlafstörungen, Stress im Job oder Beziehungsprobleme – Achtsamkeit verspricht überall Abhilfe oder gar, der Schlüssel für ein gelingendes Leben zu sein. Ich halte diese Versprechen für überdehnt und problematisch, denn so geraten die sozialen und politischen Ursachen aus dem Blick.

Sie haben Erfahrung mit der Vipassana-Meditation, wollen aber lieber „für eine bessere Welt streiten, statt sich aufs Kissen zu setzen“. Wie sähe denn eine gelungene Achtsamkeit für Sie aus?

Das wäre eine Achtsamkeit, die um ihre Grenzen weiß. Und diese sind meiner Ansicht nach ziemlich eng gesteckt. Achtsamkeit hilft bestimmt vielen, etwas mehr Selbstwirksamkeit zu erfahren oder etwas Halt in einer chaotischen Welt zu finden. Aber deshalb bleibt das Hamsterrad noch lange nicht stehen. Es wird sich wahrscheinlich langfristig sogar noch schneller drehen. Anders gesagt: Achtsamkeit kann eine individuelle Anpassungsstrategie sein. Aber sobald sie vorgibt, Lösungen für politische und gesellschaftliche Probleme anbieten zu können, überschreitet sie ihre Grenzen.

Gibt es eine Lesart von Achtsamkeit, in der auch ein politischer Impuls stecken könnte?

Soziale Praktiken haben meistens etwas Unverfügbares an sich, bringen etwas Überraschendes hervor, etwas Neues, das vielleicht gar nicht intendiert war. Das gilt auch für Achtsamkeit. Es ist also durchaus denkbar, dass die Übung von Achtsamkeit nicht nur etwas mehr Gelassenheit hervorbringt, sondern auch Widersprüche: zum Beispiel zwischen dem meditativen Nichtstun und dem gesellschaftlichen Imperativ der Zeitnutzung. Derartige Widersprüche können einen soziologischen Reflexionsprozess anstoßen: Was sind eigentlich die strukturellen und ideologischen Ursachen für diesen Zeitdruck? Was ließe sich daran politisch ändern?

Aber ich argumentiere, dass die Achtsamkeitsbewegung gerade solche Reflexions- und Politisierungsprozesse eher hemmt: Sie erhebt das Individuum und die Arbeit am Selbst zum Angelpunkt für die individuelle wie gesellschaftliche Transformation.

Wir leben heute in einer Welt mit weniger Armut, steigendem Wohlstand und sinkender Sterblichkeit. Ist es verglichen mit früheren Zeiten wirklich so schwer, in unserer Gesellschaft ein gutes Leben zu führen, wie der Untertitel Ihres Buches behauptet?

Zweifellos und zum Glück gab es viele Fortschritte. Doch zur Wahrheit gehört auch: Unsere Gesellschaft ist zwingend auf Wachstum angewiesen. Und das geht einher mit massiver Umwelt- und Artenzerstörung, der Klimaerhitzung und einer steigenden Ungleichheit. Mir geht es aber nicht um diesen historischen Vergleich, sondern darum zu zeigen, wie sehr die Achtsamkeitsbewegung zum neoliberalen Zeitgeist passt. Und dieser will uns einreden: Jede und jeder kann die Weichen selbst stellen für eine bessere Zukunft, jede und jeder kann für sich selbst das gute Leben finden. Wir sind aber keine Atome. Wir leben in einer geteilten Welt voller Abhängigkeiten. Deshalb gehört für mich zum gelingenden Leben auch die konkrete Möglichkeit, die geteilte Welt gemeinsam zu gestalten.

Dr. Jacob Schmidt studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie und promovierte zum Thema „Achtsamkeit als kulturelle Praxis“.

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