Warum missdeuten Menschen ihr subjektives Leiden als Störung?

„Da muss eine Störung dahinterstecken!“ Warum immer mehr Menschen ihren psychischen Zustand pathologisieren, erforscht Psychologe Marcus Roth.

Eine junge Frau hält an einer Schnur eine kleine Diskokugel und schaut darauf
Viele Menschen analysieren sich selbst genau und neigen dazu, ihr psychisches Befinden als krankhaft anzusehen. © DEEPOL by plainpicture/Michela Ravasio

Sie vermuten, dass mehr Menschen als früher ihr subjektives Leiden als Störung missdeuten und dann zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gehen. Warum ist das so?

Ich sehe eine starke Tendenz, dass Menschen ihr Anderssein mit einem psychologischen Label versehen oder es als Makel auffassen. Wir neigen zunehmend dazu, unsere eigene seelische Gesundheit negativer einzuschätzen, als sie ist. Es gibt bei vielen Menschen eine hohe Sensibilität in dieser Hinsicht. Ebenso verfügen viele über eine höhere sogenannte psychische Gesundheitskompetenz (mental health literacy), was einerseits gut ist, um frühzeitig bei sich und anderen Störungen zu erkennen. Andererseits birgt das ein Risiko: Wir verschieben manchmal zu voreilig normale Phänomene ins Pathologische.

Ein Grund dafür kann auch sein, dass wir so Verantwortung abgeben wollen: Wir können ja nichts dafür, wenn wir ab und zu nachts den Kühlschrank plündern, sondern wir haben eine Essstörung. Eltern, die ihre Kinder nicht erziehen, sehen oftmals beim Nachwuchs ADHS. Dennoch ist diese Entwicklung nicht nur problematisch – denn es sollte auch nicht so sein, dass jemand 20 Jahre lang unter einer schweren Depression leidet und niemand bekommt es mit.

Sie zitieren Zahlen zum Beispiel der Techniker-Krankenkasse, wonach jeder fünften Psychotherapie als Diagnose eine „Anpassungsstörung“ zugrunde liege, ohne weitere Störungen. Was versteht man darunter?

Allgemein wird darunter eine psychische Reaktion auf eine Krise oder ein belastendes Ereignis von geringem bis mittlerem Ausmaß verstanden. Wenn nun Menschen etwas Krisenhaftes erleben – den Tod einer nahen Angehörigen, eine Trennung oder Jobverlust –, dann geht es ihnen meist nicht gut. Doch es ist auch bekannt, dass sich ihr Zustand häufig wieder spontan von selbst verbessert, meist innerhalb eines halben Jahres. Das ist das normale Leben mit seinen Aufs und Abs. Wir haben keinen Anspruch darauf, dass es uns immer gutgeht. Es gibt Probleme im Leben, und wir alle werden von Zeit und Zeit damit konfrontiert und müssen diese lösen.

Die Datenlage bei den Diagnosen ist nicht ganz klar. Wir haben bei der Auswertung der Forschungsliteratur festgestellt, dass die Anpassungsstörung sogar zu den Hauptdiagnosen im Bereich der ambulanten Therapien zählt. Leider sind diese Zahlen etwas älter, ob das heute noch genauso ist, wissen wir nicht, können es aber annehmen. Für die Frage, inwieweit eine Psychotherapie bei Anpassungsstörungen überhaupt wirksam ist, ist die Datenlage bislang jedoch nicht ausreichend.

Aber solche Lebenskrisen können doch sehr gravierend sein?

Selbstverständlich können die psychischen Folgen einer Lebenskrise auch mit einer therapierelevanten Symptomatik einhergehen. Doch die Anpassungsstörung wird vermutlich gerade dann diagnostiziert, wenn die Symptomatik zu leicht ausgeprägt ist, um das klinische Bild einer spezifischen Störung zu erfüllen. Für schwere Symptome gibt es Diagnosen wie Depression, Angststörung oder posttraumatische Belastungsstörung.

Was leiten Sie daraus ab?

Für Menschen mit sozusagen „normalen“ psychischen Beeinträchtigungen könnten leicht zugängliche und kosteneffektive Unterstützungsangebote eine gute Alternative sein: Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen. Es sollten vorrangig diejenigen eine Therapie erhalten, die sie wirklich dringend brauchen.

Marcus Roth ist Psychologe und Professor für differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen.

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Quelle

Marcus Roth, Gisela Steins: Anmerkungen zur Problematik fehlender Therapieplätze. Psychologische Rundschau, 2024. DOI: 10.1026/0033-3042/a000678

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2025: Ich entscheide, was ich fühle
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