Für all diejenigen, denen die Kreditkarte manchmal etwas zu locker sitzt, hat der Psychologe und Bestsellerautor Dan Ariely in einem seiner Bücher einen Trick parat: Er empfiehlt, sie in ein Glas Wasser zu legen und dieses in die Tiefkühltruhe zu stellen. Bevor man seiner Konsumlust nachgeben könne, müsse man dann erst warten, bis das Wasser aufgetaut sei. Und bis dahin habe sich der Kaufdrang meist gelegt – mithilfe des Einfriertricks haben wir der Versuchung widerstanden. In die psychologische Fachsprache übersetzt heißt das: Wir können Selbstkontrolle ausüben.
Es bringt Nachteile im Leben, wenn man dazu nicht in der Lage ist. Zahlreiche Studien belegen das. Wir können der üppigen Torte nicht widerstehen, obwohl das Ziel, schlanker zu werden, dadurch in noch weitere Ferne rückt. Wir riskieren, nicht fit zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen, weil wir am Abend davor noch spät Games of Thrones schauen. Umgekehrt heißt das: Wer seine Impulse im Griff behält, der kommt im Leben weiter. Selbstkontrolle gilt als Schlüssel zu beruflichem Erfolg, zu Gesundheit, zu einer glücklichen Partnerschaft. Inzwischen sind aber unter Forschern Zweifel aufgekommen, ob diese Sichtweise vollständig ist. Der in Wien tätige Psychologe Michail Kokkoris stellt in einer neuen Studie fest, dass es manche Menschen regelrecht unglücklich macht, wenn sie permanent die Konsequenzen ihres Tuns im Blick behalten wollen. Sie mögen zwar wissen, dass sie von ihrer Entscheidung, einer Verlockung nicht nachzugeben, langfristig profitieren werden. Trotzdem bereuen sie sie, schon kurz nachdem sie sie gefällt haben. Kokkoris sagt: „Selbstkontrolle ist sicher wichtig. Aber vielleicht legen wir momentan zu viel Wert darauf.“
Ein Tagebuch der Verlockungen
Kokkoris und seine Kollegen baten Probanden unter anderem, ein Tagebuch darüber zu führen, wie oft sie in Konflikt mit alltäglichen Verlockungen gerieten. Außerdem sollten sie in jedem aufgeführten Fall angeben, wie sie sich entschieden hatten und wie zufrieden sie mit ihrer Entscheidung waren. Das Ergebnis: Manche Teilnehmer schienen eine tiefe Befriedigung daraus zu ziehen, niemals vom Pfad der Tugend abzuweichen. Andere dagegen bedauerten es eher, wenn sie Versuchungen nicht nachgegeben hatten.
Woher rührte dieser Unterschied? Augenscheinlich aus der Art und Weise, wie die Versuchspersonen sich selbst sahen: als vorwiegend rational oder eher von ihren Gefühlen geleitet. Wer es mit Mr. Spock hält und sich in seinem Tun hauptsächlich an harten Fakten orientiert, den macht es zufrieden, wenn er die Sachertorte erfolgreich ignorieren konnte. Wer sich dagegen als emotional einschätzt, der ärgert sich im Nachhinein eher über den entgangenen Genuss. Und zwar auch deshalb, weil die Entscheidung nicht zum eigenen Wesen zu passen scheint: Die emotionalen Teilnehmer empfanden sich in solchen Momenten als wenig authentisch. Selbstkontrolle ist also wohl kein Konzept, das zu allen Menschen gleichermaßen passt.
„Sie ist nicht nur positiv, sondern hat auch eine andere Seite“, betont Michail Kokkoris. „Allerdings beginnt diese Meinung erst jetzt in der Forschung Fuß zu fassen.“ Warum? Der US-amerikanische Ökonom George Loewenstein vermutet darin den Ausdruck einer gewissen puritanischen Voreingenommenheit. Auch er stellte dieses Mantra jüngst ein Stück weit infrage: Mehr und mehr setze sich die Erkenntnis durch, dass Willenskraft auch „schwerwiegende Einschränkungen“ nach sich ziehe. Selbst wenn wir uns noch so sehr anstrengten, gelinge es uns nicht immer, die Verlockungen des Augenblicks zu ignorieren. Was uns zwangsläufig frustriere.
Zu fokussiert auf die Zukunft
Offenbar ist es also nicht so schlimm, seinen Impulsen nachzugeben – bis in die Puppen zu feiern und nicht an das Morgen zu denken, sich die Tickets für die Elbphilharmonie zu gönnen, obwohl der Kontostand in die Miesen rutscht. Tatsächlich konnten die US-Wissenschaftler Ran Kivetz und Anat Keinan schon vor mehr als einem Jahrzehnt zeigen, dass Menschen Entscheidungen zugunsten langfristiger Ziele im Nachhinein oft bedauern. Sie haben das Gefühl, etwas verpasst und das Leben nicht genug genossen zu haben – und zwar umso mehr, je länger die entsprechende Entscheidung zurückliegt. George Loewenstein sieht die Gefahr, dass wir uns zu sehr auf die Zukunft fokussieren. Wenn wir Willenskraft zu unserer einzigen Devise machten, bleibe das Glück des Moments auf der Strecke.
Es könnte Wege geben, das persönlich richtige Gleichgewicht zwischen dem Verzicht für langfristige Vorteile und kurzfristigerem Genuss zu finden. Dafür sind die in der Psychologie erforschten Mechanismen nützlich. Die bekannte US-amerikanische Psychologin Angela Duckworth hat unlängst einige davon beschrieben. Das Prinzip: Anstatt im konkreten Moment mit viel Energie gegen eine Versuchung zu kämpfen und dann wider besseres Wissen nachzugeben, könnte man ihr von vornherein, quasi vorbeugend aus dem Weg gehen.Wer beispielsweise sein Handy stumm schaltet und beim Arbeiten wegsteckt, läuft nicht Gefahr, sich von jeder eingehenden WhatsApp-Nachricht ablenken zu lassen. Dann kann man sich gut konzentrieren, hat mehr Erfolg – und liest die Nachrichten noch früh genug. In diese Richtung geht auch der Tipp von Dan Ariely: Bis die eingefrorene Kreditkarte aufgetaut ist, hat man keine Lust mehr auf die neuen Schuhe und es fällt leichter, das Geld für etwas Wichtigeres aufzuheben. Und wer Kartoffelchips oder Coca-Cola gar nicht erst einkauft, kommt zu Hause nicht in Versuchung. Und kann am Wochenende die Einladung zum Essen richtig genießen.
Michail D. Kokkoris u.a.: True to which self? Lay rationalism and decision satisfaction in self-control conflicts. Journal of Personality and Social Psychology, 2019. DOI: 10.1037/pspp0000242
Angela L. Duckworth u.a.: Beyond willpower: Strategies for reducing failures of self-control. Psychological Science in the Public Interest, 2019. DOI: 10.1177/1529100618821893
George Loewenstein: Self-control and its discontents: A commentary on Duckworth, Milkman, and Laibson. Psychological Science in the Public Interest, 2019. DOI: 10.1177/1529100619828401