Die historische Zahl: 1968

Vor den Augen vieler Menschen geschieht ein Mord. Doch warum greift niemand ein? 1968 erforschten Darley und Latané den Bystander-Effekt.

Darley und Latané erforschen den Bystander-Effekt. Im Jahr 1964 wurden in den USA 9360 Morde gezählt, doch keiner erregte mehr Aufsehen als jener, der sich in der Nacht zum 13. März in dem New Yorker Stadtteil Queens zutrug. 38 Menschen, so hieß es, wurden hinter den Fenstern ihrer Wohnungen Zeugen, wie Kitty Genovese, eine junge Frau, auf der Straße von einem Mann attackiert, niedergestochen, vergewaltigt und getötet wurde. Warum griff niemand ein oder benachrichtigte wenigstens die Polizei? War es Angst? Gleichgültigkeit? Gar Neugier?

John Darley und Bibb Latané, beide frisch promovierte Psychologen, diskutierten eines Abends beim Dinner über den Fall und vermuteten einen anderen Grund. Sie gingen ihrem Verdacht in einem 1968 veröffentlichten Experiment nach. 72 Studentinnen und Studenten fanden sich in der New York University ein – zu einem Austausch über Unistress und persönliche Probleme, wie man ihnen sagte. Sie saßen einzeln in einer Kabine und hörten über ein Headset die Stimmen der vermeintlich anderen. In Wirklichkeit waren dies Tonbandaufnahmen.

Eine der Stimmen stammte von einem jungen Mann. Er erzählte von seinem Fremdeln in der Stadt und, zögernd, über seine epileptischen Anfälle. Irgendwann wurde seine Stimme immer lauter und verwaschener, dann ein Hilferuf, ein Gurgeln – und Stille.

Verantwortungsdiffusion und pluralistische Ignoranz

Wie sich zeigte, ließ der dramatische Zwischenfall die Zeuginnen und Zeugen alles andere als kalt. Sie wirkten mitgenommen, manche zitterten. Doch ob sie tatsächlich aus ihrer Kabine rannten und Hilfe organisierten, hing von den Begleitumständen ab: Glaubten sie sich mit dem vermeintlichen Epileptiker allein in der Leitung, wurden 85 Prozent aktiv. Wähnten sie hingegen vier Mitwissende um sich herum, rafften sich nur 31 Prozent auf.

Für diesen „Bystander-Effekt“ vermuteten Darley und Latané zwei Mechanismen: „Verantwortungsdiffusion“ (jemand von den anderen wird sich schon drum kümmern) und „pluralistische Ignoranz“ (die anderen scheinen den Vorfall nicht so dramatisch zu bewerten).

Der Bystander-Effekt gilt heute als gesichert. Beim Mordfall Genovese indes relativierte eine spätere Recherche manches: Zum Beispiel wurde die Polizei durchaus gerufen, reagierte aber nicht.

2007 Rachel Manning u.a.: Tatenlosigkeit der Bystander beim Genovese-Mordrelativiert

1981 Latané und Lida: Metaanalyse vieler Studien bestätigt den Bystander-Effekt als „robust“

1976 Shotland und Straw: Eingreifen seltener, wenn Täter und Opfer ein Paar sind

1968 Darley undLatané erforschen den Bystander-Effekt

1951 Solomon Ash: Wahrnehmungsurteile werden dem Votum der anderen angepasst

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