Angsterkrankungen zählen neben Depressionen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Wieso empfindet fast die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Japan, Europa oder den USA ihren Beruf als sinnlos? Und wieso haben wir heute mehr Angst denn je?
Wie wurde die Angststörung zum Massenphänomen, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte liefert Erklärungsansätze. Der schwedische Soziologieprofessor Roland Paulsen hat sie untersucht und methodisch beschrieben.
Die These von Roland Paulsen: Die Abschaffung der Sicherheit vermittelnden (wenn auch unfreien) Ständegesellschaft vor etwa 200 Jahren schuf den Nährboden für Ängste. Fortan war eine freie Berufswahl möglich. Die neue Arbeitswelt produzierte Gewinnerinnen und Verlierer, mitsamt Konkurrenzkämpfen, Schuldgefühlen und Existenzsorgen.
Paulsen verweist auf die Erfindung genauer Uhren und exakter Zeiteinteilung, was zum ständigen Nachdenken über den nächsten Tag oder die nächste Woche geführt habe, verbunden mit dem Grübeln über unterschiedlichste Zukunftsszenarien und der Furcht, eine falsche Entscheidung zu treffen.
Grundrauschen
Unablässiges Grübeln, so der Autor, sei ein zunehmendes Problem. Anhand spannender Fallbeispiele zeigt er, wie sich das „Grundrauschen“ im Kopf durchsetzt, obwohl es dem eigentlichen Leben im Weg steht – einem Dasein im Jetzt, das mit allen Sinnen zu feiern wäre. Wächst sich das Grübeln zu unerträglichen „Stimmen im Kopf“ aus, entwickelt sich aus dem Wunsch, diese endlich loszuwerden, häufig ein Suizidmotiv, wie Roland Paulsen anhand von Abschiedsbriefen belegt.
Unsere Vorfahren, so der Autor, hätten sich nicht dauernd im eigenen Kopf aufgehalten. Das belegten Gespräche, die Forscher in einsamen Bergdörfern, etwa Usbekistans, mit Bäuerinnen und Bauern geführt haben, deren Lebensbedingungen vergleichbar mit jenen im früheren Europa waren. Sie lebten im Moment und brüteten nicht über Katastrophen, die vielleicht morgen, nächsten Monat oder gar nicht passieren.
Der Wunsch, im Jetzt zu leben, kehrt im Westen als „Achtsamkeit“ zurück. Auf sie und andere Therapieansätze blickt der Autor, teils kritisch, am Ende seines Buchs. Er schließt mit Ideen für mehr Ruhe im Kopf; darunter Vorschläge, wie die Politik unsere Unsicherheit lindern könnte.
Roland Paulsen wollte eine vollständige Kulturgeschichte der Angst verfassen. Seinen interdisziplinären Ansatz garniert der Soziologe mit philosophischen und literarischen Zitaten. Die Leidenschaft des Autors für ein vielschichtiges Thema ist spürbar, allerdings führt die immense Stoffmenge auf 416 Seiten zu inhaltlichen Unschärfen. Die Mischung aus gut verständlichem Sachbuch und Ratgeber präsentiert viele Thesen, aus denen sich jedoch allenfalls erste Ansätze für die vielfältigen Angstprobleme ableiten lassen.
Roland Paulsen: Die große Angst. Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor. Aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns und Ricarda Essrich. Mosaik, München 2021, 416 S., € 20,–