Kindheit im Schatten

Jana Hauschild erzählt in ihrem Buch „Übersehene Geschwister“, was es bedeutet, an der Seite eines psychisch erkrankten Geschwisterkinds aufzuwachsen.

Wenn wir hören, dass in einer Familie ein Kind oder Jugendlicher erkrankt ist, denken wohl die meisten als Erstes an „die armen Eltern“. Das gilt besonders bei psychischen und psychiatrischen Krankheitsbildern, die bei vielen Menschen Ängste hervorrufen.

Dass die Geschwister einer manischdepressiven Schwester oder eines schizophrenen Bruders ebenso – wenn auch auf andere Weise – von deren Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen werden wie die Eltern, rückt Jana Hauschilds Buch Übersehene Geschwister nachdrücklich ins Bewusstsein. Die Autorin schreibt als Betroffene, die ihre eigenen Erfahrungen und die Zeugnisse zahlreicher anderer „Schattenkinder“ in ihrem Buch zusammenträgt.

„Schattenkinder“, weil sie selbst intuitiv, um die belasteten Eltern zu schonen, einen Platz im Hintergrund einnehmen und ihre Bedürfnisse gleichzeitig von den Eltern oft übersehen werden.

Jana Hauschilds Buch ist keine Studie, sondern ein Erfahrungsbericht. Er vermittelt eindrucksvoll, dass die Geschichten von Geschwistern psychisch kranker Kinder und Jugendlicher einerseits eine je eigene spezifische Dynamik haben – und zugleich viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Dazu gehören die „emotionale Anästhesie“, mithilfe derer sie versuchen, Abstand zu den belastenden und verstörenden Prozessen in der Familie zu gewinnen, und eine Art „Überlebensschuld“, die sie empfinden, weil es nicht sie getroffen hat, sondern die bewunderte Schwester oder den geliebten Bruder.

Überfordert mit Verantwortung

Und auch wenn die Eltern im Fall einer Erkrankung primär zuständig sind für Entscheidungen und Fürsorge, sind Geschwister oft näher dran. So erkennen sie nicht selten als Erste die Symptome einer ausbrechenden Krankheit als Veränderungen – und bleiben häufig auch während der Erkrankung die ersten Ansprechpartner. In vielen Fällen beraten sie gleichzeitig die Eltern und vermitteln zwischen dem erkrankten Geschwister und den Eltern. All das kann die eigene Entwicklung massiv beeinträchtigen.

Betrachtet man die Ergebnisse der Geschwisterforschung der letzten drei Jahrzehnte, die Martina Hinz in Psychologie Heute vorgestellt hat (Heft 10/2018), so haben Schattenkinder quasi kaum eine Chance, eine gesunde, sie selbst stärkende Beziehung zu ihren kranken Geschwistern aufzubauen. Im Gegenteil: Wenn alternde Eltern die Verantwortung für ihr erkranktes Kind nicht mehr tragen können, steht sogar oft die Erwartung im Raum, dass die Geschwister diese Aufgabe übernehmen.

Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die diese vermeintlich selbstverständliche Zuständigkeit von Geschwisterkindern aus fachlicher Sicht infrage stellen und mit Nachdruck auf deren eigene Bedürfnisse und Interessen verweisen. Es gibt Selbsthilfegruppen und Internetforen, in denen sich die Betroffenen austauschen, gegenseitig entlasten und stützen. Auch dazu gibt Jana Hauschild Hinweise und vermittelt in ihrem Buch insgesamt berührend und zugleich angenehm sachlich, wie kompliziert, oft ihre ganze Persönlichkeit prägend die Lebenssituation von „Schattenkindern“ ist.

Gabriele Michel

Jana Hauschild: Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter. Beltz, Weinheim 2019, 231 S., € 17,95

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2019: Bin ich gut genug?
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