Wer erzählt schon gern einer fremden Person intime Details seines Lebens, vor allem wenn es um das Eingemachte in einer Liebesbeziehung geht? Wenn zwei Menschen sich zu einer Paartherapie entschließen – oder mühsam durchringen –, ist das ein mutiger Schritt. Er erfordert Ehrlichkeit und die Bereitschaft zu „intensiver und manchmal harter Arbeit an sich selbst und der Beziehung“, schreibt Holly Parker, niedergelassene Psychologin und Dozentin für Paarpsychologie an der Harvard-Universität. Die meisten Paare koste es Überwindung, sich auf eine solche Beziehungsarbeit einzulassen, und diese Hemmschwelle sei unvermeidlich. Darüber hinaus aber, so Parker, werde die Entscheidung unnötig erschwert durch abschreckende Mythen, die die Paartherapie umrankten. Die Psychologin listet vier solcher Mythen auf:
1 Das letzte Mittel
Viele sind der Auffassung, dass eine Paartherapie erst dann angeraten und gerechtfertigt sei, wenn die Beziehung so zerrüttet ist, dass bereits die Trennung oder Scheidung am Horizont sichtbar ist. „Es ist wahr, manche sind am Rand eines Abbruchs, wenn sie in die Therapie kommen“, gesteht Holly Parker ein. Doch das ist die Minderheit, wie eine im American Journal of Family Therapy veröffentlichte Studie zeigte. Demnach sind 20 Prozent der Paare, die eine Therapie machen, nicht davon überzeugt, dass ihre Beziehung Bestand haben wird. Doch die restlichen befragten Paare waren keineswegs so pessimistisch. Fast die Hälfte von diesen gab als Therapiemotiv an, ihre ständigen Konflikte besser handhaben zu lernen. 30 Prozent wollten das Band zwischen sich wiederherstellen, das ihnen mit der Zeit abhandengekommen war. Mehr als ein Viertel der Paare gab an, ihr Beziehungsband sei alles in allem noch immer stark – sie wünschten sich nach Parkers Worten bloß eine Art Generalüberholung.
Auch in einer weiteren Studie, erschienen in Professional Psychology Research and Practice, begannen lediglich 14 Prozent die Paartherapie, um ausfindig zu machen, ob ihre Beziehung noch zu retten sei. Bei 32 Prozent ging es um Konflikte, die mit den Kindern zu tun hatten. 28 Prozent wünschten sich, körperlich wieder stärker zueinander hingezogen zu werden. Und in dieser Studie waren es 10 Prozent, die sich „nur“ bessere Fertigkeiten wünschten, um unfallfreier durch den Beziehungsalltag zu segeln. Holly Parkers Fazit: „Beziehungen müssen nicht mit einem Fuß im Grab stehen, ja nicht einmal schwerwiegende Probleme haben, um eine Paartherapie zu erwägen.“
2 Vorsicht: Kampfzone
Dieser Mythos lautet nach Parkers Worten etwa so: „Wenn ich in die Paartherapie gehe, werde ich dort beschuldigt, attackiert, in die Enge getrieben werden. Ich werde auf Ablehnung stoßen. Nein danke, das brauche ich nicht!“
Niemand könne garantieren, dass es in den Sitzungen nicht zu hässlichen Auseinandersetzungen kommt, räumt Holly Parker ein. Doch in einer professionell geführten Therapie sollte und werde das nicht eintreten. Die oft zitierte „therapeutische Allianz“, das emotionale Bündnis zwischen Therapeutin und Patientin, ist auch in einer Paartherapie Voraussetzung für das Gelingen, und diese Allianz umfasst beide Personen des Paars, es ist also ein Bündnis zu dritt und keines gegen eine der beiden Personen. Die Therapie habe nur dann eine Chance, wenn sich beide Partner im Therapieraum sicher fühlten und eine warme, vertrauensvolle Verbindung zum Therapeuten entstehe.
Wieder zitiert Parker eine Studie: Heterosexuelle Paare wurden zur Mitte ihrer Therapie befragt. Es stellte sich heraus, dass die Wahrnehmung beider Partner, wie nah sie sich der Therapeutin, dem Therapeuten fühlten, den Erfolg vorhersagte: Je stärker das Therapiebündnis, desto näher rückten auch die beiden Partner am Ende wieder zusammen. Vor allem die Frauen empfanden eine starke Nähe und Öffnung ihres Mannes gegenüber dem Therapeuten nicht als be-, sondern als entlastend.
3 Vorsicht: Einmischung
Manche Menschen, so die Paarpsychologin, nehmen die Therapie als eine Art Klempnerbetrieb wahr, wo jemand mit einem Werkzeugkasten an ihrer Beziehung herumschraubt. Das ist ihnen unangenehm: Dieser Mensch, der uns doch gar nicht kennt, soll unser Innenleben als Paar inspizieren und instandsetzen? Wie soll das funktionieren? Unsere Probleme müssen wir schon selbst lösen!
Dem hält Parker entgegen: Nicht immer sind Paare aus ihrer Binnenperspektive in der Lage, das breite Umfeld ihres Konflikts überhaupt wahrzunehmen. „Manchmal ist das, was der Zankapfel zu sein scheint, gar nicht das tatsächliche Problem.“ Wenn beide bei dem harmlosen Streit um den Abwasch sofort an die Decke gehen, dann steckt dahinter vielleicht eine halb vergessene Auseinandersetzung, bei der es um Grundsätzlicheres ging. Die Draufsicht aus der Perspektive der Therapeutin kann dann das Blickfeld erweitern. Und überhaupt: Was spricht dagegen, die Dienste eines Beziehungsklempners in Anspruch zu nehmen? Man geht doch auch zur Ärztin, zum Ernährungsberater, zur Fitnesstrainerin.
4 Bringt eh nichts!
Wenn ein Paar schon alle denkbaren Anstrengungen unternommen hat, die Beziehung zu retten, aber feststellen musste, dass sich nichts und wieder nichts bewegt hat, dann ist die Skepsis der beiden natürlich verständlich: Was soll in einer solchen festgefahrenen Situation eine Therapie noch bringen?
Eine Gewähr für den Erfolg gibt es tatsächlich nicht, gesteht Holly Parker: Manchmal stellt sich auch in der Therapie keine Besserung ein. „Doch in der Mehrzahl der Fälle können sich die Partner einen therapeutischen Fortschritt bloß deshalb nicht vorstellen, weil sie nicht auf die richtigen Lösungen gestoßen sind – und nicht weil ihre Beziehung irreparabel ist“, so die Psychologin. „Paartherapie ist keine Glückssache. Eine große Zahl von forschungsbasierten Ansätzen kann nachweislich Beziehungen aus der Sackgasse führen.“ Das heiße zwar nicht, dass es einfach werde. „Doch alles, was man braucht, ist die Bereitschaft, es zu versuchen.“
Holly Parker: 4 major myths about couples therapy. Psychology Today, 42, May/June 2020, 42–44