Herr Rottländer, was kann passieren, wenn Paare sich plötzlich in häuslicher Isolation befinden?
Das hängt davon ab, wie gerne die Partner zusammen sind. Je länger die häusliche Isolation allerdings andauert, desto mehr geraten sie unter den Stress, diese Ausnahmesituation auszuhalten. Ein Bild, das einem dazu einfällt, ist der Tiger im Käfig. Er will in die Weite und ist in dieser Enge gefangen. Er verfügt über jede Menge Handlungsenergie, kann sie aber nicht ausleben. Das macht äußerst angespannt und reizbar. Gesteigert wird dies dadurch, dass unabsehbar ist, wie lange die Situation anhält. Und es kommt aktuell noch hinzu, dass die Coronakrise dazu führen kann, den Arbeitsplatz beziehungsweise seine Einkünfte zu verlieren. Also sehr viel Stress. Wie schnell dies in Konflikte führen kann, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass beide Partner vor diesen Herausforderungen stehen, also gewissermaßen zwei Tiger im Käfig sind.
In dieser stressigen Situation könnten sich die Partner ja gegenseitig helfen, oder?
Ja, manche beruhigen sich gegenseitig, zum Beispiel durch körperlichen Kontakt oder aufrichtiges Interesse am inneren Erleben des anderen. So kann es sogar eine schöne Zeit werden. Wenn man jedoch sehr gereizt ist und nicht weiß, wohin mit seiner Wut, dann passiert leicht etwas anderes: Der Partner wird zum Gegenstand der Wut. Dazu braucht der Partner nur etwas zu machen, das einen stört, und schon findet die Wut ein Ventil. Das können kleine Dinge sein, Essensgeräusche oder Ungeschicklichkeiten zum Beispiel. Auf den Partner ergießt sich dann die angestaute Wut. Im Bild gesagt: Die Tiger fauchen sich an.
Die Ursache scheint also eigentlich etwas anderes zu sein als der Partner. Aber warum lässt man die Wut an ihm aus? Man könnte ja auch die Wand anschreien.
Klar. Allerdings gibt die Wand einem keinen Anlass sie anzuschreien. Im Verhalten des Partners hingegen gibt es immer irgendwelche Dinge, die einen stören. Im Normalfall „liebenswerte Eigenheiten“ (Loriot), die man hinnimmt, werden sie bei wütender Gereiztheit im subjektiven Erleben zu dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann wird das ganze Fass über dem Partner ausgeschüttet – oder den Kindern. In dem Moment ist man durch und durch wütend auf den Partner; die anderen Anlässe der Wut sind aus dem Bewusstsein verschwunden.
In der Psychoanalyse wird dieses Phänomen als Verschiebung bezeichnet. Was beschreibt der Begriff?
Es ist einer der sogenannten Abwehrmechanismen, bei dem Auslöser und Ausleben einer Emotion unbewusst voneinander getrennt werden. An unserem Beispiel gesagt: Wer den Partner attackiert, entlastet sich womöglich kurzzeitig von seiner Frustration. Er geht aber nicht an die Quelle des Problems: Wenn ich in Quarantäne bin, bin ich ohnmächtig, an der Vorschrift kann ich nichts ändern, und ich bin enttäuscht, weil ich so viele Dinge, die ich vorgehabt hatte, nicht tun kann. Die angemessene Reaktion wäre eine Akzeptanz der Situation und damit vermutlich ein Trauergefühl. Trauer lässt irgendwann nach, aber sie fühlt sich passiv an, ist schmerzhaft und darum oft schwer zu ertragen. Vielleicht will ich die Situation darum nicht akzeptieren. Stattdessen kann ich wütend gegen das Vorgegebene anrennen, das fühlt sich wenigstens nach Aktivität an. Wut entsteht häufig, wenn Ohnmacht und Enttäuschung nicht akzeptiert werden. Wenn der Partner dann einen Anlass bietet, kann ich meine angestaute Wut auf ihn oder sie leiten und an ihm oder ihr auslassen. Das geschieht meist unbewusst. In der Situation bin ich überzeugt, dass die Wut einzig vom Partner ausgelöst wurde.
Hat Streit also häufig weniger etwas mit dem anderen zu tun, als mit meinen überbordenden Gefühlen?
Meist ist es ein mehr oder weniger subtiles Zusammenspiel der Partner mit Anteilen von beiden. Gleichwohl können auch die eigenen überbordenden Gefühle der Hauptauslöser eines Streits sein. Der größere Zusammenhang ist die Frage, wie wir unsere „negativen“ Emotionen regulieren. Da gibt es die individuellen Strategien wie Rückzug, Ablenkung, Sport treiben, ins Museum gehen, sich mit seiner inneren Welt auseinandersetzen. Und es gibt die interpersonellen Strategien wie zum Beispiel mit Freunden einen Wein trinken gehen. Vieles von dem entfällt jetzt und umso wichtiger wird das Paar. Hier ist dann die entscheidende Frage, ob beide mit ihren negativen Emotionen beim anderen eine verständnisvolle, beruhigende Resonanz finden oder ob der Partnerkontakt die negativen Emotionen weiter anpeitscht. Wenn der Außendruck auf beide hoch ist, wie in der aktuellen Krise, wird das schwerer, weil oftmals beide einen verständnisvollen Partner suchen und weniger in der Lage sind, einer zu sein.
Fällt es manchen Menschen besonders schwer, die momentan typischen Gefühle eines ohnmächtigen Wartens in familiärer Beschränkung zu ertragen?
Sicherlich. Denken Sie zum Beispiel an eine Person, die in ihrer Kindheit sehr unangenehme Erfahrungen mit einem ohnmächtigen Ausgeliefertsein gemacht hat und daraufhin – unreflektiert – im späteren Leben alles daransetzt, bestimmend zu sein, um ja nicht wieder solche Ohnmachtsgefühle zu erleben. Muss sie, die immer alles kontrolliert, nun in Quarantäne, kann sich die Situation schnell unerträglich anfühlen. Wenn die Person die Zusammenhänge versteht, kann sie sich klarmachen, dass sie als Erwachsener keineswegs so ausgeliefert ist wie als Kind. Oft bleiben die Zusammenhänge aber unverstanden und dann kann es schwierig werden, etwa durch heftige emotionale Reaktionen.
Gelingt der Person ein Arrangement mit der Situation nicht, lässt sie die Wut darüber vielleicht am Partner aus. In China erlebte bereits vor der Krise jede dritte verheiratete Frau Gewalt in ihrer Beziehung. Laut Frauenorganisationen soll die Zahl der Opfer nun drei Mal so hoch sein. Sind auch hierzulande mehr Übergriffe zu erwarten?
Davon ist leider auszugehen. Zu einem sehr großen Prozentsatz, 81% im Jahr 2018, richtet sich partnerschaftliche Gewalt gegen Frauen. Auch tritt sie in allen gesellschaftlichen Schichten auf. Insgesamt wird die Aufarbeitung der Erfahrungen mit den pandemiebedingten Einschränkungen sicherlich komplex – der Bedarf an Plätzen in Frauenhäusern steigt schon jetzt und die Nachfrage nach Paar- und Familientherapie dürfte ebenfalls zunehmen. Eine andere Folge, die in der Provinz Wuhan beobachtet werden konnte: Nach der Aufhebung der Quarantäne soll es einen Ansturm auf die Rathäuser gegeben haben, um Scheidungsanträge zu stellen.
Ist es denn ratsam, die großen Konflikte zu besprechen – jetzt, wo man Zeit hat und sie aufkommen? Oder sollte man lieber warten, bis es auch wieder die Möglichkeit gibt, sich räumlich voneinander zu distanzieren?
Wahrscheinlich ist es so: Paare, die gut miteinander zurechtkommen, können die Zeit nutzen, um ihre Beziehung zu vertiefen und auch Konfliktthemen in Ruhe anzusprechen und nach Lösungen zu suchen. Paare, bei denen sich bereits Spannungen aufgebaut und Konflikte verfestigt haben, sollten nicht gerade jetzt, wo so viel Stress von außen dazukommt, auch noch ihre alten Konflikte auf den Tisch legen. Da ist es meist besser, erstmal einen Modus Vivendi zu finden und zu fragen: Was brauche ich für mich? Was brauchst du? Eine hilfreiche Frage kann sein: Was würde ich tun, wenn ich nicht in dieser Beziehung lebte, sondern allein? Wenn ich diese Frage in der Paartherapie stelle, bekommen die Partner manchmal leuchtende Augen und sagen zum Beispiel: „Ich würde den ganzen Tag lesen“ oder „Ich würde zwei Stunden lang gemütlich frühstücken“. All das könnten sie ja auch in der Beziehung. Die Partner blockieren sich da oft selbst, stellen sich gar nicht diese Frage. Mich überrascht immer wieder, wie blockierend das eigentlich gesuchte und geschätzte Zusammenspiel mit dem Partner oft geworden ist.
Wenn man den Komfort einer großen Wohnung hat, kann man sich manchmal in ein anderes Zimmer zurückziehen. Was kann man sonst tun, wenn einem der andere in diesen Tagen zu nah wird?
Sich eigene Beschäftigungen suchen. Es erlaubt einen inneren Abstand vom anderen, sich drei Stunden in ein Buch zu versenken oder beim PC-Spiel in einen Flow zu geraten. Die Herausforderung ist, sich darüber zu verständigen, dass das legitim ist und nicht unsolidarisch oder den Partner missachtend. Die eingespielte Regulation von Nähe und Distanz im Alltag wird durch die aktuelle Situation durcheinandergebracht. Es gab vorher viel mehr Distanz: Durch viele andere Kontakte, aber auch auf einer räumlichen Ebene, etwa durch verschiedene Arbeitsorte. Die meisten Paare müssen sich bewusst machen, dass sie nun nicht mehr an Nähe brauchen, sondern weniger. Diese geringere Nähe kann dann umso gehaltvoller sein. Generell ist es auch hilfreich, sich die anstehenden Aufgaben entsprechend der neuen Situation gerecht aufzuteilen und Routinen beizubehalten oder zu entwickeln, denn die große Überschrift unter der gerade alles steht, lautet „Unsicherheit“. Routinen hingegen geben Sicherheit.
Wie ist es mit dem unterschiedlichen Umgang mit Angst? Während sich der eine isoliert, geht der andere vielleicht noch gerne in den Supermarkt – und lacht seinen Partner womöglich gar für sein hohes Sicherheitsbedürfnis aus.
Das birgt viel Konfliktstoff. Denn es geht ja immerhin um die Infektion mit einer möglicherweise lebensbedrohlichen Erkrankung und um Solidarität mit den besonders Gefährdeten. Und auslachen – das ist unter Partnern eher ein Alarmzeichen, geht es doch mit Entwertung und Beschämung einher. Bei diesem Paar würde ich den auslachenden Partner gerne fragen, ob er eine Idee davon hat, wie sich der andere fühlt, wenn er ausgelacht wird und was seine eigenen Motive für dieses Verhalten sind. Den Partner, der ausgelacht wird, würde ich gerne fragen, ob er eine Vorstellung davon hat, was seinen Partner dazu veranlasst, ihn auszulachen und wie er selbst sich dabei fühlt.
Manche Paare erwecken den Eindruck, dass sie ihre Gefühlsarbeit aufteilen: Ist der eine sorgenvoller, braucht der andere das gar nicht mehr zu sein. Ist dem so?
Ja, in der Paartherapie bezeichnen wie dieses Zusammenspiel als „Kollusion“. Wenn Paare zusammenkommen, erscheinen die Unterschiede erst einmal wunderbare Ergänzungen zu sein. Der Ordnungsliebende findet es zum Beispiel gut, dass der andere eher sorglos ins Leben marschiert und vice versa. Diese Dynamik entwickelt entweder eine produktive Form, in der die beiden voneinander lernen, oder – nicht selten – die beiden Rollen polarisieren sich. Man sieht am anderen, wie man nicht sein will und verstärkt den eigenen Gegenpol, anstatt etwas vom Stil des anderen zu übernehmen. Der Ordnungsliebende wird für den Partner mit pedantisch, der Lebenszugewandte leichtsinnig für zwei. Und beide verfestigen ihre Positionen, blockieren ihre eigenen Entwicklungen sowie die des Partners – bis einer von beiden so nicht mehr weitermachen will.
Kann es nicht auch eine Abwehr der Angst sein, wenn sich jemand in der aktuellen Situation keine Gedanken macht? Die Bedrohung ist real.
Ja, das Zauberwort heißt „Realitätsangemessenheit“. Zu ängstlich ist ebenso schlecht wie zu sorglos. Aber wie findet man das richtige Maß gegenüber einer Bedrohung? Über die Realitätsangemessenheit lässt sich trefflich streiten. Genau auf diese Weise nähert man sich ihr aber auch an. Wenn beide über die Größe der Bedrohung in ein offenes Gespräch kommen, kann der Überängstliche etwas von der Zuversicht des Sorglosen übernehmen, und der Sorglose kann realisieren, dass er der Gefahr etwas mehr Aufmerksamkeit widmen sollte. Wenn sich die Partner also nicht polarisieren, sondern mit einem nichtwertenden neugierigen Interesse am inneren Erleben des anderen nach einer angemessenen Positionierung suchen – dann stehen die Zeichen gut für ein produktives Paarleben auch in der Coronakrise.
Dr. Peter Rottländer ist psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut in Frankfurt am Main. Er arbeitet in eigener Praxis, als Dozent und Supervisor. Gerade erschien bei Klett-Cotta sein Buch „Mentalisieren mit Paaren“.