In der Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, hatten wir einen sehr guten Pastor. Was der alles geleistet hat! War immer da, hatte jede und jeden im Blick, für alle ein Wort. Abends um neun Uhr hat er noch Besuche gemacht. Er war ein wichtiges Vorbild für mich. Als ich selbst Pastor wurde, dachte ich, ich muss 24 Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche im Dienst sein. Arbeit gibt es genug.
Als Pastor musst du viele Erwartungen erfüllen: von der Gemeinde, von anderen Vereinen, von der Gesellschaft. Ich bin für viele „die Kirche“ – und die Kirche muss doch Jugendarbeit anbieten, Alte besuchen, Geflüchteten helfen. Dazu kommen noch all die Aufgaben, die kaum jemand sieht. Verwaltung. Finanzen. Gebäudesanierung. Manchmal brauche ich einen ganzen Arbeitstag, um mit Personen von Stadt, Natur- und Denkmalschutz abzustimmen, was mit einem kranken Friedhofsbaum geschehen soll.
Der Jongleur der Gemeinde
Ich habe einmal einen Jongleur gesehen, dem immer mehr Teller zugeworfen wurden und der sie alle in der Luft halten musste. So fühle ich mich. Man sollte…, dieser Ausdruck treibt mich vor sich her. Man sollte, man sollte. Denn wer ist „man“? Das bin ich. In meiner Gemeinde gab es früher zwei Pfarrstellen, heute nur noch eine. Meine. Andere Stellen wurden ebenfalls gestrichen. Küster, Sekretärin, Jugendmitarbeitende fehlen. Die Kirchensteuereinnahmen sinken, die Kirche muss sparen. Ehrenamtliche zu finden ist ebenfalls schwierig. Die Gesellschaft hat sich verändert. In Familien sind meist beide berufstätig, Jugendliche gehen bis spätnachmittags in die Schule. Wenige können oder wollen danach noch eine Gruppe leiten oder ein Ehrenamt übernehmen. Trotzdem erwarten viele Gemeindemitglieder – besonders die zwischen 40 und 60 Jahren –, dass alles weitergeht wie früher. Es heißt: „Das war doch immer so!“
Das setzt mich unter Druck und ich versuche, den Mangel auszugleichen. Stelle die Stühle für den Seniorenkreis selbst, wechsele noch die kaputte Glühbirne im Gemeindehaus aus. Die Zeit knapse ich bei meiner Familie ab und bei dem, was mir guttut. Ab acht Uhr morgens sitze ich im Büro. Mit den Sitzungen am Abend dauert mein Arbeitstag häufig bis 23 Uhr. Einen Tag in der Woche versuche ich mir freizunehmen, aber dann bleibt etwas liegen und das fällt mir schwer. Mein Beruf prägt unser Familienleben. Die Kinder mähen den Kirchenrasen, meine Frau engagiert sich stark ehrenamtlich. Beim Essen reden wir häufig über Gemeindethemen.
Kurz vor dem Burnout
Im vergangenen Jahr habe ich gemerkt: Ich fahre meine Ehe vor die Wand und meine Familie. Meine Frau und ich haben ständig gestritten. Mein Asthma wurde stärker, ich hatte einen Allergieschub, eine schlimme Nasennebenhöhlenentzündung. Körper, Geist und Seele schrien nach Hilfe. Sechs Wochen habe ich mir eine Auszeit genommen und bin in ein Kloster gegangen. Das hat mich vor dem Burnout bewahrt.
Danach ist es mir gelungen, etwas weniger zu tun. Ich habe Entspannungsübungen gemacht und mir im Alltag Zeit für Sport genommen. Aber als die Kirche saniert werden musste, habe ich wochenlang darum gekämpft und bin dadurch wieder in den alten Trott zurückgefallen.
Ich bin ein Typ, der sich schnell verantwortlich fühlt. Wenn ich eine Aufgabe sehe, übernehme ich sie. Nein zu sagen fällt mir schwer. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus einer Familie von Leistungssportlern und -sportlerinnen komme. Wir waren alle schon immer engagiert, auch in der Kirche. Mit zwölf Jahren bin ich Mitarbeiter in meiner Heimatgemeinde geworden, mit vierzehn Jahren habe ich den Kindergottesdienst geleitet.
Hinzu kommt: Wenn man, so wie ich, vorne steht, möchte man auch gesehen und gelobt werden. Es bedeutet mir viel, wenn Leute sagen: „Der Gottesdienst hat mir gutgetan.“ Oder: „Es war eine schöne Beerdigung, ich bin getröstet nach Hause gegangen.“ Der Wunsch nach Anerkennung wird oft verachtet – gerade im Pfarrberuf. Aber ich bin mir sicher, dass es vielen meiner Kollegen und Kolleginnen genauso geht. Man lebt als Pfarrer nicht nur von der Gnade Gottes, sondern auch von der Rückmeldung der Gemeinde.
Und was habe ich geredet, um die Gemeinde auf Veränderungen vorzubereiten: in der Gemeindeversammlung, im Anschluss an den Gottesdienst, im Bauausschuss der Stadt. Aber wenn dann etwas eingespart werden muss, heißt es: „Haben wir nicht gewusst. Können wir nicht verstehen.“ Ich möchte der Held sein. Und bin der Depp. Weil ich Entwicklungen verantworten und erklären muss, für die ich nichts kann. Etwa wenn Geld fehlt oder Mitarbeitende. Das Gemeindehaus muss verkauft werden. Kindergottesdienst finden nicht mehr statt. Die 70-Stunden-Woche, die ich arbeite, wird von vielen nicht gesehen. Stattdessen bin ich der Buhmann und werde kritisiert. Dabei möchte ich doch als jemand gelten, der seine Arbeit gut macht. Auch für mein Selbstverständnis als Pfarrer ist es nicht schön, wenn ich nur noch den Mangel verwalte.
Was gibt mir Kraft und was kostet mich Kraft?
Die Arbeit geht an meine Kräfte. Es muss sich etwas ändern und mir ist klar, dass ich der Schlüssel dafür bin, wie es für mich als Pastor, aber auch für uns als Ehepaar, als Familie weitergeht. Es reicht nicht, wenn ich powere. Meine Familie muss das Tempo mithalten. Ich frage mich: Was ist meine Kernaufgabe? Was gibt mir Kraft und was kostet mich Kraft? Eigentlich kann ich das schon beantworten, aber ich setze es noch nicht um. Zum Beispiel die Bibel lesen. Nur für mich. In die Kirche setzen und beten. Ganz allein. Weil mir das guttut. Aus dem Arbeiten und Funktionieren herauskommen und wieder ein geistliches Leben entwickeln.
Ich weiß auch, dass ich meine Existenz als Pfarrer abkoppeln muss von der Rückmeldung der Gemeinde. Aber das fällt mir schwer. Manchmal gelingt es mir zu sagen: „Das ist nicht meine Aufgabe.“ Ich kann den Rollenerwartungen nicht so gerecht werden, wie ich möchte. Ich kann die Rolle als Pastor nicht so ausfüllen, wie ich es selbst früher erlebt habe. 24/7-Dienst? Schaffe ich nicht. Aber nach einem besseren Weg suche ich immer noch. Ich versuche die Welt zu retten, obwohl das längst ein anderer getan hat.
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