Frau Winkelmann, wann werden Rollenerwartungen zur Belastung?
Das hängt davon ab, wie eine Person ihre Ressourcen einschätzt, auf Stress reagiert und mit den eigenen oder fremden Erwartungen umgeht. Belastungen werden von Person zu Person ganz unterschiedlich wahrgenommen. Dabei gilt die Pfarrrolle als sogenannte „Totalrolle“. Wenn eine Pfarrerin aus der Haustür tritt, ist sie Pfarrerin. Auch wenn sie Brötchen kauft oder einen Kaffee trinken möchte. Es wird von ihr erwartet, dass sie anderen freundlich begegnet und sie wahrnimmt. Das ist schwierig in Zeiten, in denen sich die Arbeit im Pfarramt stark verdichtet hat.
Gibt es Persönlichkeiten, die unter hohen Erwartungen besonders leiden?
Zum Beispiel Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich abzugrenzen, oder solche mit Helfersyndrom. Aber die Gesellschaft muss sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass in einer Gemeinde eine Pfarrperson für alles zuständig ist. Seit dem 19. Jahrhundert war es so, deshalb ist dieses Bild schwer aus den Köpfen zu bekommen.
Was können Pfarrpersonen tun?
Sie können sich sagen: Ich bin nicht der Pfarrer, sondern ein Pfarrer. Ich bin ersetzbar. Meine Vorbildrolle besteht nicht darin, ein besserer Mensch zu sein, sondern mich in meiner Unvollkommenheit anzunehmen. Außerdem können Pfarrpersonen ihren Dienstplan gemeinsam mit dem Leitungsgremium der Gemeinde so gestalten, dass dieses einen Einblick in die Arbeitsmenge der Pfarrperson erhält, und miteinander überlegen, was in eine begrenzte Arbeitszeit hineinpasst und was nicht mehr.
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Judith Winkelmann ist Pfarrerin, Supervisorin und Studienleiterin im Zentrum für Seelsorge der Evangelischen Landeskirche in Baden.
Judith Winkelmann: „Weil wir nicht vollkommen sein müssen“. Zum Umgang mit Belastungen im Pfarrberuf. Kohlhammer 2019