Ein Mann ist auf einen Kran geklettert und will sich hinunterstürzen. „Rede mit dem, damit er wieder runterkommt“, sagt ein Kollege zu mir.
Ich bin Verhandler bei der Polizei. Mein Team und ich werden gerufen, wenn es darum geht, gefährliche Situationen mit Worten zu entschärfen. Zum Beispiel wenn Personen entführt wurden, ein Bankräuber Geiseln festhält, eine Familie erpresst wird – oder jemand sich das Leben nehmen will. Bei Entführungen oder Geiselnahmen begleiten wir die Angehörigen und verhandeln mit der Täterin oder dem Täter.
Vermittelt habe ich schon immer gern. Ich war Schulsprecher, Lehrgangssprecher. Als Polizist habe ich zuerst nur hin und wieder verhandelt, bis ich selbst festgestellt und von anderen gehört habe: Das wäre etwas für mich. Für die Arbeit braucht man vor allem Empathie. Man muss sich in andere einfühlen können und Menschen auf Augenhöhe begegnen, unabhängig davon, wer sie sind und was sie getan haben. Das ist eine Fähigkeit, die alle Verhandlerinnen und Verhandler von Anfang an mitbringen. In der Ausbildung lernen wir dann Kommunikationstechniken wie etwa aktives Zuhören, Aussagen zusammenfassen und wiederholen und nonverbale Kommunikation.
Zuhören ist das Wichtigste
Als Verhandler muss ich schnell eine Beziehung aufbauen und das Vertrauen von Menschen gewinnen. Damit das gelingt, versuche ich herauszufinden: Was treibt eine Person an? Was sind ihre Bedürfnisse? Was ist das eigentliche Problem? Was höre ich zwischen den Zeilen? Ich stelle einige Fragen wie zum Beispiel: „Was ist dir heute passiert, dass wir beide jetzt auf diesem Kran stehen?“ Und ich höre zu. Zuhören ist das Wichtigste.
Auch bei Täterinnen und Tätern versuche ich zu verstehen, warum sie handeln. Um mich einfühlen zu können, blende ich Kategorien wie Gut oder Böse, Schuldig oder Unschuldig aus. Zwar bleiben sie im Hinterkopf, aber ich konzentriere mich nur auf den Menschen: Was will er? Wie weit wird er gehen?
Vielleicht spreche ich mit einem Entführer und sehe im Hintergrund sein Opfer, aber muss trotzdem ruhig und wertschätzend sein. Gelingt mir das immer? Natürlich nicht. Ich bin ein Mensch. Aber entweder merke ich selbst, dass ich aggressiv werde und sich mein Ton ändert, oder mein Team tut es und sagt mir: „Lass dich nicht provozieren. Bleib sachlich.“ Oder: „Gehe wieder auf die Beziehungsebene zurück.“ Auch wenn ich allein verhandle, ist mein Beruf Teamarbeit. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen bespreche ich zum Beispiel, wie viele Zusagen wir einer Erpresserin machen oder wie wir Angehörige unterstützen. Meinen Auftrag und meine Rolle in der Situation habe ich immer vor Augen.
Ich weiß nie, was der Tag bringt
Bei uns geht es bei jedem Einsatz um einen Menschen, um ein Schicksal. Die Verantwortung für dieses Menschenleben spüre ich in jedem Moment. Ich kenne zum Beispiel die Frau und die Kinder eines entführten Mannes, sitze mit ihnen am Wohnzimmertisch. Oder ich sehe vor mir einen Menschen, der schon mit seinem Leben abgeschlossen hat, und versuche, ihm einen anderen Weg aufzuzeigen als den Tod.
Manchmal gelingt das nicht. Wir scheitern. Nicht oft, aber es kommt vor. Mir hilft dann, mich an einen Grundsatz aus meiner Ausbildung zu erinnern: Ich bin für das Handeln einer anderen Person nicht verantwortlich. Sie entscheidet selbst, ob sie springt oder nicht, Geiseln freilässt oder nicht. Aber natürlich fühle ich mich trotzdem verantwortlich und frage mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe. Unsere Verhandlungsgruppe wird von einer Psychologin begleitet. Supervision zweimal im Jahr ist verpflichtend, mehr Termine sind immer möglich. Auch im Team besprechen wir Einsätze nach.
Zwar sehe ich das Leid, aber dafür erlebe ich auch das Glück unmittelbar. Ich bin dabei, wenn der Mann freigelassen wird und seine Frau ihn wieder in die Arme schließt, wenn die Kinder ihren Vater zurückbekommen. In solchen Momenten weiß ich, warum ich die Arbeit mache. Sie entschädigt mich für die Zeit, die ich selbst mit meiner Familie und meinem Freundeskreis verpasst habe.
Denn der Arbeitsalltag ist nicht planbar. Wenn ich morgens ins Büro komme, weiß ich nicht, was der Tag bringen wird. Oder wann ich Feierabend habe. Während ich mit einer Person verhandle, kann ich nicht nach Hause gehen. Wie viele Konzertkarten oder Kinotickets ich verfallen lassen musste, kann ich nicht mehr zählen. Selbst Geburtstage meiner Kinder habe ich verpasst. Ohne die Unterstützung meiner Frau und meiner Familie könnte ich die Arbeit nicht machen. Sie wissen, dass ich hier meinen Platz gefunden habe.
Wenn ich Menschen das Gefühl vermittle, dass sie mir wichtig sind, stimmt das in der Situation. Sonst würden sie es merken. Aber wenn ich aus dem Büro gehe oder den Einsatzort verlasse, schalte ich ab. Das kann ich gut. Morgens führe ich ein ernstes Gespräch mit Angehörigen, nach Feierabend kann ich trotzdem lachen. Vielleicht ist das ein inneres Verarbeiten der Erlebnisse.
Meine positive Neugier
Aber sonst sehe ich vor allem die positiven Auswirkungen meiner Arbeit. Nach fast dreißig Jahren als Verhandler gehe ich viel offener und vorurteilsfreier auf Menschen zu als andere. Ich kann leicht ein Gespräch beginnen, sei es mit der Kassiererin im Supermarkt oder dem Fahrkartenkontrolleur im Zug. Ich glaube, durch die vielen Gespräche bei meiner Arbeit ist ein grundsätzliches Interesse an anderen Menschen entstanden, eine positive Neugier. Das Fragenstellen hat mich verändert.
Wenn bei Treffen mit Freunden jemand Neues dabei ist, spreche ich die Person an, versuche Themen zu finden, über die sie gern spricht, und dafür zu sorgen, dass sie sich in der Gruppe gut aufgehoben fühlt. Schlechte Kommunikation fällt mir auf. Zum Beispiel wenn die Moderatorin bei Interviews im Fernsehen schon an die nächste Frage denkt, statt dem Politiker zuzuhören.
Aber das Einzige, was ich privat gut verhandeln kann, sind Preise im Urlaub. Mit meiner Frau oder den Kindern – da habe ich keine Chance. Geht nicht. Mache ich nicht. Dafür sind viel zu viele Emotionen im Spiel. Und wenn ich doch einmal eine Kommunikationstechnik anwende, erkennen sie es sofort und werfen es mir vor.
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