Kann ich es ertragen? Das war die erste Frage, die ich mir gestellt habe. Bei der Polizei sieht man viel Schlimmes, aber Kindesmissbrauch gehört zu den Verbrechen, die selbst erfahrene Kolleginnen und Kollegen schockieren. Ich habe mich trotzdem für genau diese Arbeit entschieden.
Als Kriminalpolizist arbeite ich in einer Sondereinheit gegen Kinderpornografie und sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Ich leite Hausdurchsuchungen, sichere Material und vernehme Opfer, Zeuginnen und Zeugen sowie Verdächtige. Etwa zwei bis drei Stunden täglich sichte ich Bilder und Videos. Dabei sehe ich Missbrauch an Kindern jeden Alters und in jeder Form.
Es gibt für diese Arbeit eine finanzielle Zulage und intensive Begleitung. Trotzdem bewerben sich nur wenige Kolleginnen und Kollegen. Das kann ich verstehen. Bei mir gab den Ausschlag, dass ich zwei Fragen bejahen konnte. Nicht nur: Kann ich es ertragen? Sondern auch: Tue ich damit etwas Gutes? Ich finde die Arbeit absolut sinnhaft. Ich bin selbst Vater. Meine Tochter ist zehn, mein Sohn sieben Jahre alt.
Finden sie zurück in ein normales Leben?
Die Fälle sind ganz unterschiedlich schwer. Manche Tatverdächtige haben sich Pornos angesehen, aber nicht selbst Kinder missbraucht. Andere schon – einmal, mehrmals, über Jahre. Es sind nicht nur Typen, von denen man es erwarten würde, es zieht sich durch alle Berufe und sozialen Milieus. Wir waren zu Hausdurchsuchungen schon bei Ärzten, Polizisten, Staatsanwälten, ebenso wie zum Beispiel bei Erzieherinnen und Lehrerinnen. Denn auch Frauen missbrauchen. Die Arten des Missbrauchs übersteigen alles, was ich mir je hätte vorstellen können.
Im Umgang mit den Tatverdächtigen kann ich sachlich bleiben, professionell. Das ist wahrscheinlich ein Talent von mir. Der Kontakt mit den Geschädigten ist belastender. Vor mir sitzen manchmal Kinder, deren Leben zerstört wurde. Mit zehn, elf Jahren sind sie psychisch am Ende, kommen nirgendwo zurecht, wohnen im Heim. Da merke ich, wie mich das berührt, wie ich helfen will.
Dann muss ich mich auf meine Rolle konzentrieren und mir sagen: Ich bin kein Sozialarbeiter, kein Psychologe. Das ist nicht meine Aufgabe. Oft wüsste ich gern, was aus ihnen wird. Finden sie zurück in ein normales Leben? Aber das erfahre ich nicht. Wenn der Fall abgeschlossen ist, endet der Kontakt. Aus Selbstschutz muss es so sein. Ich darf mich emotional nicht an einen Fall binden.
Meine Frau ist meine Kontrollinstanz
Für unsere Arbeit gibt es viel Unterstützung wie Supervision und Gespräche mit Psychologinnen. Um den Kopf wieder freizubekommen, mache ich Kampfsport. Falls ich versteckte Aggressionen habe, lasse ich sie in der Halle am Sandsack aus. Wenn man abends nach Hause geht, sollte man seinen Dienst in der Dienststelle lassen. Aber nicht immer gelingt mir das. Manche Missbrauchsdarstellungen haben sich eingebrannt und manche Fälle werden mich ein Leben lang begleiten.
Bevor ich anfing, hatte ich viele Bedenken: Was passiert mit mir, wenn ich mir so einen Mist ansehen muss? Verändert sich meine Sexualität? Wie wirkt sich das auf den Umgang mit meinen eigenen Kindern aus?
Meine Frau ist meine Kontrollinstanz. Sie ist auch Polizistin und wir haben vereinbart, dass sie mich anspricht, sollte sie etwas bemerken. Bei der Sexualität hat sich nichts verändert, Gott sei Dank. Im Familienalltag versuche ich Situationen zu vermeiden, die mich an Missbrauchsdarstellungen erinnern könnten. Wenn meine Tochter mit ihren Freundinnen im Planschbecken badet, gehe ich ins Haus und hole mir einen Kaffee. Ich will die Kinder nicht halbnackt sehen. Manche Eltern-Aufgaben muss meine Frau übernehmen. Zäpfchen gebe ich nicht mehr.
Ich werde misstrauisch
Seit ich täglich mit Missbrauchern konfrontiert bin, sehe ich mein Umfeld mit anderen Augen. Mir fallen Männer auf, die ohne Kinder an Spielplätzen herumstehen. Wenn ich schwimmen gehe, achte ich darauf, wer sich in der Nähe der Kinderbecken aufhält. Was meine Kinder angeht, vertraue ich niemandem mehr. Zu oft habe ich gesehen, dass Missbrauch dort passiert, wo man nicht damit rechnet.
Durch die Arbeit bin ich misstrauisch geworden gegenüber meiner eigenen Familie, meinen Nachbarn und Nachbarinnen, meinem Freundeskreis. Wir haben eine enge Bindung zu den Schwiegereltern, aber wenn sie dort übernachtet haben, frage ich nach: Was habt ihr gemacht? Wie war es? Wer war dabei? Eine Antwort wie „War alles super“ reicht mir nicht. Niemals würde ich meine Tochter vom Trainer ihres Sportvereins nach Hause fahren lassen. Von Kolleginnen und Kollegen höre ich, dass es ihnen ähnlich geht.
Unsere Kinder wissen nicht, was ich beruflich mache. Was Missbrauch bedeutet, müssen sie auch nicht wissen. Meine Frau und ich haben ihnen aber erklärt, dass niemand sie ausziehen oder zwischen den Beinen anfassen darf. Wir haben ihnen eingeschärft: „Wenn jemand das machen möchte, sagt ihr nein und gebt uns direkt Bescheid.“ Das Wichtigste ist, sie so zu erziehen, dass sie viel aus ihrem Alltag erzählen. Denn kleine Kinder denken sich erst einmal nichts dabei, wenn eine Erzieherin mit ihnen kuscheln will oder ein Verwandter mit in die Badewanne steigt.
Mein Selbstwert hängt an diesem Beruf
Ich habe Dinge gesehen, die 99 Prozent aller Menschen nie sehen müssen. Neben den zahllosen Missbrauchsfällen zum Beispiel auch Tierquälerei, Folter, Enthauptungen. Wenn man in solche menschlichen Abgründe geblickt hat, merkt man, wie tief sie sein können. Wozu Menschen fähig sind und wie wenig man von außen ahnt. Deshalb bin ich heute zurückhaltend, wenn ich privat eine nette neue Familie kennenlerne. Schönes Haus, Pool im Garten? Beeindruckt mich nicht mehr. Das ist nur Fassade – wer weiß, was dahintersteckt.
Jedes Jahr frage ich mich, ob ich noch weitermachen will. Als ich anfing, dachte ich, ich werde es zwei, drei Jahre machen. Inzwischen sind es schon fast vier. Aber es wird der Punkt kommen, an dem ich sage: Jetzt ist es genug. Manchmal gibt es ein Bild, nach dem man nicht mehr weiterarbeiten kann. Bei Kolleginnen und Kollegen habe ich es schon erlebt: Warum gerade dieses Bild? Sie wissen es nicht. Da wir eine so sensible Aufgabe haben, können wir jederzeit die Stelle wechseln.
Aber noch gibt mir die Arbeit viel. Ich gehöre zu den Menschen, deren Selbstbild an ihrem Beruf hängt. Ich ziehe meinen Selbstwert aus dem, was ich täglich tue. Vor meiner Arbeit haben alle Respekt, nicht nur auf unserer Dienststelle, sondern auch in meinem Umfeld. Jeder weiß, wie wichtig sie ist und dass sie jemand tun muss. Dass ich derjenige sein kann, macht mich stolz und gibt mir ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Oft gehe ich nach Hause und denke: Heute war ein guter Tag.
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