Das psychologische Immunsystem hat bei US-Angestellten zu Beginn der Coronapandemie gut funktioniert. Dies haben Psychologen in einer Tagebuchstudie mit einer kleineren Stichprobe festgestellt. Sie zeigte: Bereits wenige Tage nach dem Beginn des Lockdowns erholten sich die Befragten seelisch – sie empfanden sehr schnell wieder mehr Autonomie und fühlten sich nicht mehr machtlos, stattdessen mehr wieder wie sie selbst.
Dies galt sogar in stärkerem Maß für diejenigen, die bei der Messung ihres „Neurotizismus“ höhere Werte erzielt hatten – also eigentlich emotional weniger stabil waren, berichten die Wissenschaftler. Die Schlussfolgerung: Unser psychologisches „Immunsystem“ ist effektiv, es beginnt sofort nach dem Einsetzen eines belastenden Ereignisses wieder zu arbeiten. So sorgt es dafür, dass wir uns psychologisch wieder erholen – auch wenn das belastende Ereignis noch anhält, wie es bei der Coronakrise der Fall ist.
Direkt nach Einsetzen des Lockdowns in den USA untersuchten die Forscher rund 250 Angestellte aus verschiedenen Branchen, etwa Consulting oder IT, in einer einmaligen Befragung. An der Tagebuchstudie nahmen 117 der Befragten teil. Drei Mal erhielten sie täglich einen Link zur Umfrage zugeschickt und antworteten auf verschiedene Fragen zu ihrem Wohlbefinden, zu ihrem Autonomie- und Kontrollgefühl sowie ihrem Gefühl der Authentizität. Wie die Autoren schreiben, handelt es sich um die einzige Studie, die die psychische Erholung von Angestellten in den 14 Tagen nach dem Beginn des Lockdowns in den USA untersuchte und bei der die Probanden unter Live-Bedingungen befragt wurden. Die Forscher plädieren für weitere Forschung, weil in dieser Studie nicht erhoben wurde, wie die Teilnehmer sich erholten.
Emotional labil – aber nicht in der Krise?
Überraschend war für die Wissenschaftler Forscher der Befund, dass die neurotischeren und labileren unter den Befragten sich besser erholen und ihr Autonomiegefühl schneller zurückgewinnen konnten. Die Psychologen plädieren dafür, das häufig negative Image dieser Persönlichkeitseigenschaft zu hinterfragen. Womöglich weise das Ergebnis darauf hin, dass manche Menschen sich im Angesicht einer Krise oder von widrigen Umständen eher autonomer und authentischer fühlten, was sich positiv auf ihr Engagement und ihre Leistungsfähigkeit auswirken könne. Neurotizismus ist eine von fünf Eigenschaften des Big-Five-Persönlichkeitsinventars. Menschen, die hier höhere Werte erzielen, gelten also emotional labiler, angespannter, nervöser und ängstlicher als andere. Die anderen vier Eigenschaften sind: Offenheit, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit sowie Extraversion.
Eric M. Anicich u. a.: Getting back to the “new normal”: Autonomy restoration during a global pandemic. Journal of Applied Psychology, 2020. DOI: 10.1037/apl0000655