Bei eingeschränkter Gesundheit trotzdem zu arbeiten ist ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren zugenommen hat. In der Arbeits- und Organisationspsychologie heißt es „Präsentismus“. Mit der Coronakrise wird sich das womöglich ändern: Erkältet zur Arbeit zu kommen, wird nicht mehr einfach so gehen. Dennoch ist Präsentismus weder nur negativ zu sehen, noch nur positiv, schreiben Arbeits- und Organisationspsychologen aus Universitäten in Europa, den USA und Asien in einem Überblicksartikel, in dem sie psychologische Forschungsergebnisse zum Präsentismus zusammenfassen. Arbeit sei für Gesundheit und Wohlbefinden der meisten von uns sehr wichtig – darum müssten sich Organisation und Unternehmen mit Erkrankungen der Mitarbeiter befassen.
Was Präsentismus fördert
Präsentismus sei keine rein individuelle Entscheidung, erklären die Forscher. Wenn er gehäuft vorkommt, spielen auch der konkrete soziale Kontext und die jeweiligen Normen eines Unternehmens oder einer Organisation eine wichtige Rolle. In der Forschung bestätige sich regelmäßig, dass Jobanforderungen, eine große Arbeitsbelastung, Personalmangel, aber auch Verhalten wie Mobbing, Belästigung oder Diskriminierung oft auslösende Faktoren seien. Diese wirken zum Teil indirekt, indem sie eine Art „Anwesenheitsdruck“ erzeugen. Die direkte Wirkung entsteht, indem solche Faktoren die Verletzlichkeit erhöhen und somit das Krankheitsrisiko. Dann könne es bei einem Teil der Betroffenen zu mehr Präsentismus kommen – bei einem anderen Teil zu mehr Absentismus. Sie bleiben dann länger der Arbeit fern als nötig wäre. Zu hoher sozialer Druck kann zudem entstehen, wenn das Betriebsklima gut ist und viel Konkurrenz in Teams besteht.
Forschungen hätten darüber hinaus gezeigt, dass auch das Verhalten der Führungskräfte sowie die Beziehungen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern Einfluss darauf haben, ob Mitarbeiter trotz gesundheitlicher Belastungen arbeiten. Zudem kommt es auf die Branche an, so findet sich Präsentismus erwartungsgemäß häufiger im Gesundheitswesen sowie im Bildungsbereich. In Studien wurde auch festgestellt, dass Selbstständige in noch stärkerem Maß zu Präsentismus neigen als Angestellte.
Freiwillig oder unfreiwillig
Darüber hinaus gibt es individuelle Unterschiede, die oft in der Motivation liegen. Sie ist nicht immer negativ. Manche Mitarbeiter arbeiteten trotz eingeschränkter Gesundheit, weil sie es wollen, weil sie engagiert sind und sich ihrer Arbeit verbunden fühlen, berichten die Psychologen. Andere kommen zur Arbeit, weil sie glauben, dass es erwünscht ist und erwartet wird, wollen aber eigentlich nicht. Zusätzlich spielen Faktoren wie Angst vor Jobverlust eine Rolle. Schließlich verweisen die Wissenschaftler auf Forschungen, wonach Bildung, Alter oder Geschlecht kaum eine Rolle spielen.
Wenn trotz Erkrankung gearbeitet wird, geht dem häufig ein durchaus komplexer Entscheidungsprozess voraus, schreiben die Psychologen. Forschungen belegen: In der Regel wägen wir ab, welche Folgen unser Verhalten für uns selbst haben könnte, aber auch für die Kollegen und den Arbeitgeber. Allerdings ist auch klar: Dabei kommen wir nicht zwingend auch zum richtigen Ergebnis. Wer freiwillig in angeschlagenem Zustand arbeite, könne nicht gewährleisten, dass das seiner Gesundheit tatsächlich guttut und die Heilung nicht verzögert.
Flexibler, aber auch stressiger
Nicht zuletzt spiele die zunehmende Flexibilität der Arbeitswelt eine große Rolle. Alle Vorteile dieser Entwicklung, mehr Optionen zu haben, mehr Schnelligkeit, mehr Verantwortung für Projekte oder Aufgaben übernehmen zu können, Zugang zu einer Fülle von Informationen, die Nutzung neuer Tools bei der Zusammenarbeit, hätten den Nachteil, dass mehr und schneller gearbeitet werden müsse und Deadlines straffer würden. Dies fördere freiwilligen Präsentismus, schreiben die Forscher, – mit eventuell negativen Folgen für die Gesundheit.
Der Umgang mit Erkrankungen bleibt für Unternehmen ein kniffliges Thema: Fallen Mitarbeiter aus, bleibt deren Arbeit liegen. Kommen sie gesundheitlich angeschlagen zur Arbeit, laufen sie Gefahr, mehr Fehler zu machen und sind weniger produktiv. Zugleich kann aber auch reduzierte Produktivität besser sein als gar keine, wenn ohnehin Personalmangel herrscht oder viele gleichzeitig krank sind. Und für Mitarbeiter kann es einen positiven Effekt haben, überhaupt zu arbeiten, auch wenn er oder sie gesundheitsbedingt vielleicht nicht Vollzeit arbeiten kann, etwa im Fall von psychischen Problemen. Geht es um ansteckende Erkrankungen, steigt natürlich das Risiko, dass weitere Kollegen dann entweder ausfallen oder ebenfalls krank zur Arbeit kommen. Die Psychologen plädieren dafür, Präsentismus nicht nur individuell zu betrachten, sondern stets im jeweiligen Kontext und natürlich abhängig von der jeweiligen Erkrankung.
Sascha Ruhle u. a.: „To work, or not to work, that is the question” – Recent trends and avenues for research on presentism. European Journal of Work and Organizational Psychology, 2019. DOI: 10.1080/1359432X.2019.1704734