Herr Morschitzky, was versteht man unter dem „Sterblichkeitsparadoxon“?
Das „Sterblichkeitsparadoxon“ beschreibt die alltägliche Erfahrung, dass viele Menschen so leben, als würden sie nicht sterben, obwohl sie wissen, dass sie sterben werden. Die meisten Menschen können oder wollen sich ihren eigenen Tod nicht vorstellen. Damit ist der Tod immer wieder nur der erlebte Tod der anderen, nicht der eigene.
Einerseits wissen wir um unsere Vergänglichkeit und die Unausweichlichkeit unseres Todes, andererseits kann sich unser Verstand den Zustand der Nichtexistenz unserer Person nicht vorstellen, so dass wir zu dem Glauben neigen, wir könnten gar nicht für immer sterben und endgültig tot sein.
Welche unterschiedlichen Arten der Angst vor dem Tod gibt es?
In meinem Buch unterscheide ich drei Arten von sogenannten „existenziellen Ängsten“: Die Furcht vor dem Sterben besteht in der Befürchtung konkreter zum Tod führender Erkrankungen und der damit verbundenen Leidenszustände. Die Angst vor dem Tod bezieht sich auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz.
Sie zeigt sich in typischer Weise als Bedrohung durch eine unsichere Zukunft, charakterisiert einerseits durch die Ungewissheit, wann und wodurch das Leben beendet sein wird, und andererseits durch das Nichtwissen, ob und wie das Leben nach dem Tod in irgendeiner Weise weitergehen wird. Art und Ausmaß der Angst vor dem möglichen Danach hängen eng mit den jeweiligen Jenseitsvorstellungen der Betroffenen zusammen.
Sind diese Ängste unterschiedlich ausgeprägt, etwa in Abhängigkeit von Geschlecht oder Alter?
Einigen Studien zufolge ist bei vielen Menschen die Furcht vor dem Sterben viel größer als die Angst vor dem Tod. Die Angst vor dem möglichen Danach ist heutzutage aufgrund der stark abnehmenden Religiosität viel geringer als im Mittelalter, als selbst Könige und Kaiser große Angst vor der ewigen Verdammung zu qualvollen Höllenfeuern hatten. Die Angst vor dem Tod ist laut Studien bei Frauen viel größer als bei Männern. Es kann jedoch sein, dass Männer existenzielle Ängste stärker verdrängen, wie sie oft auch andere Ängste stärker kompensieren, etwa durch Alkoholkonsum.
Jüngere Menschen fürchten sich vor dem Tod stärker als ältere. Das hängt wohl damit zusammen, dass sie im Fall des Todes vor Erreichen des durchschnittlichen Sterbealters mehr zu verlieren haben als in höherem Alter. Ältere Menschen haben ihr Leben bereits gelebt und ihre Träume verwirklicht – oder auch nicht. Sie stehen dem Tod schon näher und fürchten sich daher eher vor schweren Erkrankungen mit langem Leiden, ohne rasch daran sterben zu können.
Was kann man tun, wenn die eigenen Ängste vor dem Tod übermächtig geworden sind und das Leben erschwe-ren?
In schweren Fällen rate ich zu einer Psychotherapie. Als hilfreich hat sich erwiesen, auf Sinnsuche zu gehen und sich zu fragen: Was macht mein Leben trotz des bevorstehenden Todes sinnvoll und lebenswert?
Wer versucht, ein weitgehend erfülltes Leben zu führen, muss angesichts des jederzeit möglichen Todes, einer bleibenden Behinderung oder eines langen Leidens vielleicht nicht ständig bedauern, im bisherigen Leben zu kurz gekommen zu sein. Es hilft auch, sich auf das eigene Sterben und den Tod vorzubereiten, etwa durch eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung, durch das Verfassen eines Testaments und Vorkehrungen bezüglich des Begräbnisses.
Dr. phil. Hans Morschitzky ist klinischer Psychologe und Psychotherapeut in freier Praxis. Sein Spezialgebiet sind Angst- und psycho-somatische Störungen.
Hans Morschitzkys Buch Die Angst vor dem Tod. Existenzielle Ängste wahrnehmen und als Chance nutzen ist bei Patmos erschienen (180 S., € 19,–).