Herr Professor Vogel, Sie haben sich aus psychologisch-psychoanalytischer Perspektive ausgiebig mit den Themenbereichen Sterben, Tod und Trauer befasst. Welche Rolle spielt der Tod heute überhaupt in unserer Gesellschaft?
Es gibt ja schon seit den 1980er Jahren die Theorie von der Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft. Dem würde ich heute nicht mehr zustimmen. Es gibt eine hohe Faszination für den Tod. Schon am Nachmittag geht es los mit den ersten Krimis im Fernsehen, da sterben dauernd Menschen, dann kommen die Krankenhaus- und Pathologieserien, wo es ständig um Krankheit und Tod geht, gefolgt von den vielen Nachrichtensendungen, wo man permanent Tote sieht. Ganz zu schweigen von den vielen Krimis auf den Bestsellerlisten.
Aber dennoch ist das Sterben aus unseren privaten Leben doch weitestgehend verbannt.
Das stimmt. Wir haben es beim Thema Tod in unserer Gesellschaft also mit einer Paradoxie zu tun. Wir sind trainiert auf Verfügbarkeit und Zugriff auf alles. Doch durch den Tod werden wir mit Unkontrolliertheit konfrontiert, mit Unergründbarkeit, mit Unverfügbarkeit, was uns als Gesellschaft nicht behagt. Denn alles, was wir von uns fernzuhalten versuchen – die Ohnmacht, Vergänglichkeit, die generelle Unberechenbarkeit und Ungewissheit der menschlichen Lebenserfahrung –, das steht uns im Todesthema gegenüber. Aus diesem Grund haben wir es trotz unserer medialen Todesfaszination auf einer individuellen Ebene mit einer anhaltenden Verleugnung zu tun, einer fast aggressiv-feindseligen Haltung gegenüber allem, was mit dem Tod in Verbindung steht, besonders dann, wenn er in unserer Nähe auftaucht.
Dabei hat es in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte in der Behandlung sterbenskranker Menschen gegeben.
Ich bin beruflich viel auf Palliativstationen und in Hospizen unterwegs. Ja, man sieht seit ungefähr zwanzig Jahren Veränderungen in der Art, wie mit dem Tod umgegangen wird, aber dennoch hat das immer noch einen Refugiumscharakter. Das sind kleine Enklaven der aktiven Konfrontation und Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Ansonsten ist es so: Solange das Sterben die anderen betrifft, etwa die vielen Millionen Hungertoten, ist es für unsere Gesellschaft kaum ein Problem. Wir erfassen den Tod dann zwar intellektuell, können ihn aber emotional gut abwehren.
Und wenn der Tod uns selbst näher rückt?
Dann sind wir unvorbereitet. Durch die aktuelle Pandemie kommt der Tod nun tatsächlich rapide näher. Die Medien konfrontieren uns durch die täglich steigenden Todeszahlen erbarmungslos mit der Endlichkeit. Und damit, dass wir uns bisher zu wenig um das gekümmert haben, was wir in der Psychologie ein „Todeskonzept“ nennen, also eine zumindest vorläufige gedankliche und emotionale Sicht auf Sterblichkeit und Tod.
Dafür spricht auch, dass die Corona-Toten seltsam anonym und gesichtslos bleiben.
Das kommt, weil die Gestorbenen nur auf einer mathematisch-statistischen und einer virologischen Ebene stattfinden. In den Talkshows kommen fast nur Politiker und Virologen vor. Alle anderen Disziplinen, die Soziologen, Pädagogen, Psychologen, Theologen, haben kaum etwas zu melden. Die mediale Auseinandersetzung mit Corona, die wir aktuell sehen, führt aus meiner Sicht also gerade nicht zu einer Auseinandersetzung mit Leid und Sterben. Wir werden überflutet von Bildern von Leichenkonvois, von Triagevorkehrungen und Beatmungsmaschinen. Wenn ich die New Yorker Leichenkühlwagen sehe, dann kriege ich Angst. Und Angst ist etwas, was bei uns abgewehrt oder ausagiert werden muss.
In Form von Verschwörungstheorien?
Entweder im Sinne einer Überängstlichkeit, dass ich also nicht mehr rausgehen und niemanden mehr sehen mag oder jeden, der keine FFP2-Maske trägt, am liebsten wegsperre. Oder im Sinne der Verleugnung und Verschiebung. Und ja, da können dann auch Verschwörungstheorien rauskommen. Auch bei denen herrschen ja Ängste vor.
Uns beherrschen derzeit also vor allem Abwehrformen der Angst.
Absolut, im Moment sind wir sehr stark auf Angst ausgerichtet. Leider können wir uns durch die Kontaktbeschränkungen dabei gegenseitig nur wenig Beruhigung und Trost spenden; eine Situation der physischen Nähe, die eigentlich eine haltende und tragende wäre, wird nun zu einer potenziell gefährlichen. Auch Sterbebegleitung und Trauerrituale für Verstorbene sind teils unmöglich geworden. Ich kenne einige Priester, die Erkrankte in den Kliniken nicht mehr besuchen durften wegen der Kontaktsperren.
In den letzten Wochen wurden vermehrt Rufe nach kollektiven Formen der Trauer für die Toten der Coronapandemie laut, unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Verändert sich da etwas?
Ich habe auch das Gefühl, dass etwas in Bewegung kommt, es gibt ja auch schon erste private Initiativen. Aber im Moment stecken wir aus meiner Sicht noch zu sehr drin im Geschehen und in der Angst. Ich würde mir zumindest von den Medien mehr Entängstigung wünschen. Aus der Psychoimmunologie wissen wir ja, dass Angst das Immunsystem schwächen kann und Hoffnung und Freude das Immunsystem schützen. Die einzige Hoffnung, die aber derzeit transportiert wird, ist die auf einen Impfstoff. Für eine kollektive Trauer scheint mir die Zeit also noch nicht gekommen.
Wie definieren Sie kollektive Trauer?
Kollektive Trauer ist bislang sehr wenig erforscht. Der Begriff selbst beschreibt zunächst erst mal nur die gesellschaftlichen Äußerungsformen von Trauer, Abschied und Verlust. Dafür braucht es in der Regel ein mediales Interesse, eine politische Willensäußerung und die Betroffenheit einzelner Menschen, die dann ansteckend wirkt. Mit dieser persönlichen Betroffenheit steht und fällt eine kollektive Trauer, die diesen Namen dann auch verdient.
Ist kollektive Trauer vergleichbar mit individueller Trauer?
Da bin ich mir sehr unsicher. Grundsätzlich ist das Trauern ja ein innerseelischer Vorgang und kein Actionprozess. Die Trauer läuft anfangs dyadisch ab, also zwischen zwei Personen. Das merke ich oft, wenn ich trauernde Menschen begleite; die können zunächst mit mir gar nicht viel anfangen, weil sie mit sich und der Beziehung zum Verstorbenen beschäftigt sind. Heute weiß man aus der modernen Trauerforschung, dass Trauer primär etwas mit einer tiefen Verwandlung der Beziehung zum Verstorbenen zu tun hat – der Verstorbene wird zu einem Anteil meiner selbst, ich führe sozusagen weiterhin eine Beziehung zu ihm, die gespeist wird unter anderem aus gemeinsamen Erfahrungen, Erinnerungen und deren Verarbeitung. Die Tragik des Verlusts wird damit nicht kleingeredet, aber – und das ist tröstlich – eine Form von Beziehung überdauert.
Nun können aber selbst prominente Todesfälle wie der Tod von Lady Di, David Bowie oder jüngst von Diego Maradona eine Art Trauer in der Öffentlichkeit hervorrufen, etwa in Form von Nachrufen oder Postings in den sozialen Medien. Tatsächlich sind Menschen deshalb häufig wirklich traurig. Steht diese Form der Trauer auch für eine emotionale Bindung an einen Menschen, der ja eigentlich ein Fremder war? Oder ist das reine Projektion?
Eine wichtige Unterscheidung wäre in diesem Zusammenhang die zwischen Traurigkeit und Trauer. Wenn man einen Verlust erfahren hat, der nicht so existenziell ist, kann man wohl eher von einer Traurigkeit oder einer schwereren Traurigkeit sprechen. Und man kann über viele Dinge traurig sein. Wenn ich ins Fitnessstudio gehe und merke, dass ich nicht mehr so fit bin wie vor zehn Jahren, dann bin ich ein bisschen traurig. Wenn Maradona stirbt, wie jüngst, dann bin ich auch traurig. Diese kleinen Momente der Traurigkeit können eine gute Vorbereitung sein für das, was wirklich später mal an existenzieller Trauer erfahren wird. Aber mit einer individuellen Trauer hat das nichts zu tun, außer vielleicht, wenn man wirklich das Gefühl hatte, eine reale oder imaginierte Beziehung zu Diego Maradona oder Lady Di zu haben und damit etwas wirklich Wichtiges zu verlieren.
Welche Rolle spielt die Gruppendynamik bei gesellschaftlichen Trauerreaktionen?
Ich glaube, der Großteil dieser Phänomene erklärt sich durch sozialpsychologische und nicht durch individualpsychologische Mechanismen. Da gibt es vielleicht auch eine Art Traueransteckung. Wenn man sieht, wie die königliche Familie um Lady Di trauert, dann kann man sich davon anstecken lassen und identifiziert sich mit der Trauer des anderen, mittrauern nennt man das. Als Psychoanalytiker habe ich aber gelegentlich auch den Verdacht, dass es bei diesen Trauerreaktionen in Bezug auf Prominente teils um narzisstische Phänomene geht.
Inwiefern?
Es hat bisweilen auch etwas von einer Inszenierung der Trauer, wenn ich Lady Di eine Blume hinlege. Damit gehöre ich nicht nur zu einer großen Trauergemeinschaft, sondern bekomme vielleicht auch ein bisschen Glanz ab. Beides kann das Selbstwertgefühl stärken.
Nun gibt es ja auch fürchterliche Ereignisse wie 9/11, den Amoklauf von Winnenden oder den Tod von George Floyd oder das Attentat von Hanau. Warum trauern wir auch kollektiv um Menschen, die wir nicht kannten und zu denen wir keine persönliche Bindung verspürten?
Zum einen, weil Ereignisse wie 9/11 oder Winnenden diesen Memento-mori-Aspekt innehaben, dieses Bewusstsein, dass das Leben für jeden von uns morgen zu Ende sein könnte. „Du weißt weder Tag noch Stunde“, steht im Matthäusevangelium. Vom Kopf her wissen wir, dass dieser Moment jederzeit kommen kann, aber emotional ist das schwierig. Getrauert wird dann auch um das eigene Sterbenmüssen. Zum andern stehen diese Ereignisse oder Menschen oft auch für eine Idee, etwa die nach einer gerechteren Gesellschaft. Und das Scheitern dieser Idee wird dann schmerzlich betrauert. Und dann gibt es natürlich einen politischen Aspekt, also das Bedürfnis, Betroffenheit zu vermitteln und Zeichen zu setzen. Etwa beim Tod von George Floyd, beim Attentat von Hanau oder natürlich bei den Gedenktagen zur Befreiung der Konzentrationslager. Diese politisch gelenkte kollektive Trauer kann dann wichtig sein, um notwendige Konsequenzen zu ziehen oder Veränderungen herbeizuführen.
Könnte man diese Art der kollektiven Trauer auch als Erinnerungspolitik bezeichnen?
Erinnerungspolitik braucht eigentlich eine Erinnerungspsychologie. Eine gute Erinnerungspolitik wäre eine, die versucht, Betroffenheit aufrechtzuerhalten. Ein historisches Ereignis an sich schafft ja noch keine Betroffenheit. Wir Deutschen müssen es aber zum Beispiel hinbekommen, dass wir weiterhin betroffen sind von den Gräueltaten der Nazizeit – obwohl die letzten Zeitzeugen nun höchst betagt sind.
Wie schaffen wir das?
Ich würde immer versuchen, die Betroffenheit über Brücken herzustellen, also zu den historischen Ereignissen zu kommen über Verluste und Dinge, die man selbst schon erlebt hat. Das ist dann eher ein individualpsychologischer Weg.
Könnte dieser erinnerungspolitische Ansatz uns auch helfen, die Erfahrung der Coronapandemie zu bewältigen – gerade im Hinblick auf die vielen Opfer?
Diese Art kollektiver Trauer kann helfen, in der individuellen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen besser zurechtzukommen. Aber das Wort bewältigen mag ich nicht. Das kommt mir so vor, als ob man etwas abarbeiten müsste. Ich glaube generell, dass man einen Verlust von geringerer Bedeutung ohnehin im Normalfall gut wegstecken kann. Aber wenn es um einen bedeutsamen Verlust geht, einen existenziellen Verlust, dann ist die Trauer nie wirklich bewältigt, nie abgeschlossen oder bearbeitet. Der Verlust bleibt eine ständige Entwicklungsaufgabe, die letztlich irgendwann sogar etwas Positives hat. Das kann man natürlich nicht so begreifen, wenn man verzweifelt ist. Aber im Laufe der Zeit, wenn man sich zyklisch um die Trauer herumbewegt, stellt man fest, dass die Trauer auch zu einem sogenannten posttraumatischen Wachstum führen kann.
Wie wird Corona uns aus Ihrer Sicht langfristig prägen?
Ich denke schon, dass Corona einen Umschlagpunkt bedeuten wird. Für uns Mitteleuropäer ist das Sterben wieder in unserer Mitte angekommen. Wir erfahren gerade, dass auch wir nicht unverwundbar sind. Dieser Schreck wird uns noch nachhängen und, so hoffe ich, einen Wandlungsimpuls auslösen. Vielleicht in Form einer größeren Empathie mit Ländern, die etwa Naturkatastrophen, Überflutungen oder Kriege erleiden. Und ich denke auch, dass jeder Einzelne für sich etwas aus der Erfahrung der Pandemie ziehen kann. Die aus der Endlichkeitskonfrontation resultierenden existenziellen Verunsicherungen und Fragen nach dem Sinn, der Einsamkeit, dem Wert der Gemeinschaft, der Solidarität, all das sind Grundfragen, an denen wir, wenn wir sie zulassen können, wachsen werden.
Professor Ralf T. Vogel ist Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut. Er arbeitet in eigener Praxis in Ingolstadt sowie als Dozent und Lehranalytiker am C.-G.-Jung-Institut München. Eines seiner Schwerpunktthemen ist Tod und Psychotherapie.
Zum Weiterlesen:
Ralf T. Vogel: Psychotherapie in Zeiten kollektiver Verunsicherung. Therapieschulübergreifende Gedanken am Beispiel der Corona-Krise. Springer, Wiesbaden 2020
Ralf T. Vogel: Der Tod ist groß, wir sind die Seinen. Mit dem Sterben leben lernen. Patmos, Ostfildern 2015
Ralf T. Vogel: Todesthemen in der Psychotherapie. Ein integratives Handbuch zur Arbeit mit Sterben, Tod und Trauer. Kohlhammer, Stuttgart 2012