„Die ganze Welt ist wie verhext – Veronika, der Spargel wächst.“ Die Comedian Harmonists zählen zum großen Chor der Dichterinnen und Reimer, der unsere Höhenflüge im Frühling besungen hat. Beschwingt der Lenz die Emotionen? Und wenn ja: Wie stellt er das an? Musische Gemüter haben tatsächlich Spargel & Co in Verdacht: Die alljährliche Wiedergeburt der Natur sei einfach ansteckend und wecke damit in uns die Lebensgeister. Doch die Forschung hat auch weniger metaphorische, direktere psychische Frühlingswirkungen beobachtet, und die haben mit der Tageslänge und dem Licht zu tun.
1. Schlaf
Der Unterschied ist nicht groß, aber eindeutig: Im Frühling und Sommer, wenn die Nächte kurz sind, ist auch unser Schlaf kürzer. Diese bereits in früheren Studien beobachtete Differenz hat kürzlich eine großangelegte Befragung von mehr als 30000 Frauen und Männern im Alter zwischen 45 und 85 Jahren bestätigt. Sheida Zolfaghari und ihr Team an der McGill University in Montreal legten den Teilnehmenden zu verschiedenen über das ganze Jahr verteilten Zeitpunkten einen Fragebogen vor, in dem sie über Dauer und Qualität ihres Schlafs berichteten. In der warmen Jahreszeit, wenn die Tage in Kanada lang waren, schliefen die Befragten im Schnitt 6,76 Stunden pro Nacht. Im Winter waren es 6,84 Stunden.
Die subjektive Schlafqualität war in der leicht verkürzten Nachtruhe im Frühling und Sommer nicht schlechter als im Winter. Und dass man gen Jahresmitte früher aus dem Bett kommt, hat sogar einen Vorteil: Man hat mehr vom Tag – und seiner Helligkeit.
2. Stimmung
Den meisten Menschen ist der „Winterblues“ unangenehm vertraut, dieser trübe Schleier, der ab den Herbsttagen unser Gemüt umfängt. Es fühlt sich an, als saugte uns einer dieser grässlichen Dementoren aus dem Harry Potter-Universum die Lebenslust ab. Wie man seit längerem weiß, hängt das saisonale Stimmungstief, das bei manchen bis zu einer Depression reicht, mit dem Mangel an hellem Licht zusammen: Die Tage sind kurz, die Sonne steht tief am Horizont, der Himmel ist oft wolkenverhangen. Wahrscheinlich spielt auch die Kälte eine Rolle.
Eine von dem Verhaltensgenetiker Matthew Keller geleitete Studienreihe an der University of Michigan mit 600 Freiwilligen ermittelte im Jahr 2005 zwei Hauptfaktoren, die übers Jahr die Stimmung hoben: erstens die Jahreszeit (Frühling) und zweitens die im Freien verbrachte Zeit. In einer der Studien wurden die Versuchspersonen gebeten, an einem Frühlingstag mit entweder freundlichem oder trübem Wetter ins Freie zu gehen oder in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Diejenigen, die für mindestens eine halbe Stunde draußen den Sonnenschein genießen durften, waren danach nicht nur besserer Stimmung, sondern auch offener und geistig aufnahmefähiger – vor allem im Vergleich zu den erzwungenen Stubenhockern.
3. Depression
Tragischerweise scheinen Menschen, die an einer klinischen Depression leiden, von diesem stimmungsaufhellenden Effekt der Frühlingssonne nicht so stark zu profitieren. Darauf deutet eine neue Studie an der Vanderbilt University in Nashville hin. Oleg Kovtun und Sandra Rosenthal statteten 23 Frauen und Männer mit unipolarer oder bipolarer Depression sowie 32 Personen ohne Depressionsdiagnose mit Sensoren aus, die bis zu zwei Wochen lang deren Bewegungsaktivität erfassten. Außerdem wurde die Menge an Sonneneinstrahlung an den jeweiligen Tagen protokolliert. Ergebnis: In beiden Gruppen war die Stimmung depressiver, wenn sich die Betreffenden zum einen wenig bewegten und es zum anderen draußen trüb und dunkel war. Und: Je heller und länger der Tag war, desto mehr bewegten sie sich – und umgekehrt. Letzteres galt für die depressiven Freiwilligen aber nur eingeschränkt. Möglicherweise hielt die lähmende Bedrücktheit sie davon ab, an freundlichen Tagen nach draußen zu gehen und Licht zu tanken.
Ins Bild passen Beobachtungsstudien, wonach „Eulen“ – Spätaufsteher, die folglich weniger Licht abbekommen – ein bis zu doppelt so hohes Depressionsrisiko haben wie die „Lerchen“, also Frühaufsteher. Dies wurde 2021 in einer großen Multicenterstudie bestätigt: Eine Stunde früher aufstehen und zu Bett gehen senkte das Risiko, an einer Depression zu erkranken, statistisch um 23 Prozent. Auch wurden Menschen mit Genen, die zum Frühaufstehen disponieren, seltener depressiv. Mitautorin Céline Vetter von der University of Colorado rät Eulen, die abends früher müde werden möchten: tagsüber viel Licht tanken. Und wann ist das leichter als im Frühling?
4. Aktivierung
Man könnte annehmen, dass uns der kalte, dunkle Winter stresst und die Frühlingssonne entspannt. Tatsächlich aber ist die Konzentration des „Stresshormons“ Kortisol im Juni höher als im Februar. Das ermittelte 2019 die polnische Physiologin Dominika Kanikowska mit ihrem Forschungsteam an der Medizinischen Universität Posen. An jeweils zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Februar und Juni gaben Medizinstudentinnen alle zwei Stunden eine Speichelprobe ab. Im Juni, so stellte sich heraus, wurde über den Tag hinweg mehr Kortisol ausgeschüttet. Ein Zeichen für Schönwetterstress? Nicht unbedingt. Das Hormonplus im Frühsommer könnte auch wohltuende Aktvierung signalisieren. Denn bei Probandinnen, die im Fragebogen eine depressive Tendenz erkennen ließen, fiel im Juni das typische Kortisolhoch am Morgen, das uns für den Tag in Schwung bringt, etwas schwächer aus.
5. Konformität
Allerdings ist im Frühling – und im Herbst – auch unser Ängstlichkeitspegel etwas höher als im Winter und Sommer. Auf diese Gesetzmäßigkeit stießen drei Psychologen, als sie über zehn Jahre Umfragedaten von 230000 Personen aus den USA sowie Stichproben aus Kanada und Australien analysierten. Warum ausgerechnet im Lenz die Angst stieg, ist vorerst ein Rätsel – könnte auch hier das Kortisol im Spiel sein? Im Rhythmus der Angst schwang noch etwas anderes über den Jahresverlauf auf und ab: Im Frühling und Herbst fühlten sich die Befragten stärker zu konservativen Werten wie Loyalität, Respekt und Folgsamkeit gegenüber Autoritäten, Ordnung und Tradition hingezogen. Seniorautor Mark Schaller von der University of British Columbia hat dafür folgende Erklärung: Der Angstanstieg im Frühjahr und Herbst „könnte Menschen dazu bewegen, in Gruppennormen und Traditionen Geborgenheit zu suchen“.
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Quellen
Sheida Zolfaghari u.a.: Effects of Season and Daylight Savings Time Shifts on Sleep Symptoms: Canadian Longitudinal Study on Aging. Neurology, 101/1, 2023, e74-e82
M. C. Keller u.a.: A Warm Heart and a Clear Head: The Contingent Effects of Weather on Mood and Cognition. Psychological Science, 16/9, 2005
Oleg Kovtun, Sandra J. Rosenthal: Seasonality in mood disorders: Probing association of accelerometer-derived physical activity with daylength and solar insolation. PLOS Mental Health, ¼, 2024, e0000124
Iyas Daghlas, Céline Vetter u.a.: Genetically Proxied Diurnal Preference, Sleep Timing, and Risk of Major Depressive Disorder. JAMA Psychiatry, 78/8, 2021, 903–910
Dominika Konikowska u.a.: Seasonal differences in rhythmiity of salivary cortisol in healthy adults. Journal of Applied Physiology, 126/3, 2019, 764–770
Ian Hohm, Brian A. O’Shea, Mark Schaller: Do moral values change with the seasons? Proceedings oft he National Academy of Sciences, 121/33, 2024, e2313428121