Frau Ohlmeier, Langeweile gilt gemeinhin als ein subjektives Phänomen. Sie hingegen behaupten, dass es sich dabei um ein verkanntes Gefühl handelt, das viel über unsere Gesellschaft verrät. Wie meinen Sie das?
In einem Satz ausgedrückt bezeichnet Langeweile das unangenehme Gefühl, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können. Sie entsteht also nicht einfach dadurch, dass man nicht genug zu tun hat, und ist auch keine Folge von Faulheit.
Es ist komplexer: Die Leistungsgesellschaft suggeriert uns, dass wir die ganze Zeit beschäftigt sein müssen und permanent konsumieren sollen, damit wir nicht gelangweilt sind. Wenn wir aber jede Sekunde leerer Zeit mit unserem Smartphone totschlagen, blicken wir am Ende auf ein langweiliges Leben zurück, obwohl wir permanent beschäftigt waren. Dass Ruhe und Nichtstun für so viele Menschen synonym mit Langeweile sind, zeigt, wie tief wir die kapitalistischen Leistungsideologien unserer Gesellschaft verinnerlicht haben. Außerdem ist es für strukturell benachteiligte Menschen schwerer als für Privilegierte, Zugang zu befriedigenden Tätigkeiten zu erhalten. Langeweile ist damit immer auch eine Frage von Sonderrechten wie Geld und Macht.
Langeweile wird meist psychologisch betrachtet. Wozu ist eine soziologische Perspektive dienlich?
Soziologisch wird schnell klar, dass Langeweile kein persönliches Versagen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Mit dieser Betrachtungsweise nimmt man die einzelne Person aus der alleinigen Verantwortung und trägt zur Entstigmatisierung und Enttabuisierung bei.
Ist Langeweile abhängig von Einkommen, Geschlecht oder Bildung?
Ja, Studien zeigen, dass Menschen mit geringer Bildung und geringem Einkommen stärker von Langeweile betroffen sind. Wer weniger finanzielle Ressourcen und Macht hat als andere, kann sich beispielsweise schwerer aus chronisch langweiligen Situationen wie etwa einem langweiligen Job befreien.
Mit dem Einfluss des Geschlechtes ist es ein wenig komplizierter. Frauen langweilen sich nicht unbedingt häufiger als Männer, sehen die Schuld für dieses Gefühl aber eher bei sich. Historisch betrachtet wurden Frauen zudem lange systematisch von wichtigen beruflichen Positionen und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Die einzige Rolle, die sie ausüben durften, war die der Hausfrau und Mutter. Die Langeweile, die viele Frauen dabei empfunden haben, war Ausdruck ihrer ohnmächtigen Position und gesellschaftlichen Unterdrückung.
Ist an der Redewendung „sich zu Tode langweilen“ empirisch betrachtet etwas dran?
In gewisser Hinsicht ja. Studien zeigen, dass Menschen, die sich häufig langweilen, ein überdurchschnittlich hohes Sterberisiko aufweisen. Es ist aber wahrscheinlich nicht die Langeweile selbst, die zu einem früheren Tod führt. Wahrscheinlicher ist, dass die prekären Lebensumstände, die zu diesem Gefühl geführt haben, auch das Sterberisiko erhöhen. Darüber hinaus greifen viele Menschen bei Langeweile zu ungesunden Bewältigungsstrategien wie Alkohol, Drogen oder Essen. Das wiederum ist auch nicht förderlich für die Gesundheit.
Sie sind Mitglied der International Society for Boredom Studies. Was sind die Ziele dieser Vereinigung?
Langeweile war sehr lange ein wissenschaftlich wenig beforschtes Thema. Das hat sich inzwischen geändert und viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Bereichen forschen dazu. Die ISBS bringt diese zusammen und ermöglicht Austausch.
Silke Ohlmeier hat – angetrieben von der Erfahrung extremer Langeweile während ihrer Ausbildungszeit zur Industriekauffrau in einem Busunternehmen – Soziologie studiert und Langeweile zum Thema ihrer Dissertation gemacht.
Silke Ohlmeiers Buch Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät ist bei Leykam erschienen (192 S., € 23,–)