Die historische Zahl: 1775

Er sucht in den Gesichtern der Menschen nach deren Persönlichkeit. Vor 250 Jahren erschien Johann Caspar Lavaters „Physiognomische Fragmente“.

Die Illustration zeigt ein Notizbuch mit Zeichungen von Nasen, Mündern und Ohren, daneben liegen Lineale und ein Zirkel
Eine kleine Nase macht den Menschen gierig. Große Ohren machen ihn zum Lügner. – Ist das so? © Tim Möller-Kaya für Psychologie Heute

Eine hohe Stirn steht für Edelmut und Klugheit – nicht zu verwechseln mit kaltem Verstand, dessen Kennzeichen eine geradlinige Nase und ein spitz zulaufendes Kinn sind. Eng beieinanderliegende Augen hingegen signalisieren List und Tücke. Diese und viele andere Regeln stellte der Schweizer Pfarrer und Hobbynaturforscher Johann Caspar Lavater auf – und erntete damit reges öffentliches Interesse.

Vor 250 Jahren, 1775, erschien der erste von vier überaus dicken Buchbänden seiner Reihe Physiognomische Fragmente. Der Text war üppig illustriert mit vergleichenden Zeichnungen von Profilen, Augenpaaren, Lippen- und Stirnpartien, Nasen, Ohren oder Händen, kommentiert mit Anmerkungen, wie diese physischen mit psychischen Merkmalen korrespondierten. Denn nach Lavaters Überzeugung drückte sich in der Beschaffenheit des Körpers, insbesondere des Gesichts, die Seele des Menschen aus. Der forschende Pastor versuchte durchaus, dies mit den Methoden der Wissenschaft zu belegen, und vermaß Proportionen mit Abständen und Winkeln. Lavater räumte ein, dass ihm dabei auch Fehler unterliefen. „Aber dass die Physiognomie an sich irre macht, weiß ich, kann nicht bewiesen werden.“

Inzwischen hat sich die Ablesbarkeit des Charakters am Gesicht sehr wohl als Irrlehre erwiesen. Das ahnte schon Lavaters Zeitgenosse Georg Christoph Lichtenberg, der dessen Vergleichsstudien ironisch kommentierte: „Er springt und stolpert von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes und, welches unverzeihliche Vermessenheit ist, aus gewissen Abweichungen der äußeren Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele. Ein Sprung, der meines Erachtens nicht kleiner ist als der von Kometenschwänzen auf Krieg.“ Voller Spott parodierte Lichtenberg Lavaters pseudowissenschaftliche Methode, indem er sechs mit den Buchstaben a bis f durchnummerierte Zeichnungen präsentierte: Dargestellt waren die Ringelschwänze von „unbekannten meist thatlosen Schweinen“.

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1775 Johann Caspar Lavater fahndet im Gesicht nach dem Charakter

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160 Galen verbindet Körpersäfte (humores) mit psychischen Merkmalen

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