Ernst Pöppel und Frederick Turner vermessen das Gegenwartsfenster in Gedichten. Die Gegenwart, was soll das eigentlich sein? Ein mikroskopischer Punkt in der Zeit, also ein Nichts zwischen Vergangenheit und Zukunft? „Jedes Jetzt“, schrieb Heidegger, „ist auch schon ein Soeben oder Sofort.“ Philosophisch mag man das so sehen, psychologisch jedoch haben wir ein ziemlich konkretes Empfinden für die Gegenwart – sogar mit einer fest umrissenen Ausdehnung: Das Jetzt umfasst ungefähr drei Sekunden.
Der Psychologe und Hirnforscher Ernst Pöppel hat das vermessen. Mit der Stoppuhr in der Hand untersuchte er die Rhythmik von 200 rezitierten deutschsprachigen Gedichten. Er stellte fest, dass die allermeisten von ihnen eine Versdauer von knapp drei Sekunden hatten. Ein glücklicher Zufall brachte Pöppel in Kontakt mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler und Dichter Frederick Turner, der ein Faible für die Zeitstruktur der Lyrik hat.
Fasziniert von Pöppels These, analysierte Turner nun Gedichte in verschiedensten Sprachen, von Englisch über Chinesisch bis Altgriechisch, ergänzt durch Tonaufnahmen in Eipo (Neuguinea) und Ndembu (Sambia). Im Jahr 1983 publizierten Turner und Pöppel das Ergebnis: In allen Sprachen wurden Drei-Sekunden-Verse auffällig bevorzugt.
Der Atem des Gehirns
In einem Interview mit Psychologie Heute (Heft 10/93) schildert Pöppel, wie er während eines Besuchs in Tokio mit einem japanischen Germanisten über seine Theorie plauderte. Der habe bloß geschmunzelt und ihn ins Theater zu einer Aufführung eines No-Spiels der Kyoto-Schule geführt. „Von dem Stück – es hieß Eguchi – konnte ich natürlich kein Wort verstehen. Dennoch bemerkte ich sofort, warum mein Bekannter mich dorthin geschickt hatte: Dort war ein Trommler, der alle drei Sekunden einen Trommelschlag gegeben hat und damit eine strenge Zeitstruktur vorgab, innerhalb der sich das ganze Spiel darstellte.“
Ernst Pöppel fand viele weitere Hinweise, die seine Theorie von der Drei-Sekunden-Gegenwart stützen. Offenbar brauche unser Bewusstseinsapparat dieses Zeitfenster, um uns etwa alle drei Sekunden ein integriertes Bild des Geschehens um uns herum zur Verfügung zu stellen. Das sei, so der inzwischen emeritierte Forscher, „sozusagen der Atem des Gehirns“.
2022 Zhao u.a.: Das Gehirn braucht Zeitfenster, um den Fluss der Ereignisse zu portionieren
2015 Wang u.a.: Die Sensitivität des Gehirns fluktuiert in Drei-Sekunden-Intervallen
1983 Ernst Pöppel und Frederick Turner vermessen das Gegenwartsfenster in Gedichten
1868 Karl Vierordt: Zeitstrecken, die drei Sekunden übersteigen, werden unterschätzt
1687 Newton erklärt den Zeitfluss zur absoluten Größe
397 Augustinus beschreibt unser Erleben als fortlaufende Gegenwart