Wenn die Zeit verrückt spielt

Psychologie nach Zahlen: Die Zeit fließt ohne äußeres Zutun dahin. Doch psychologisch hält sie drei außergewöhnliche Erfahrungen für uns bereit.

Die Illustration zeigt drei Männer, die jeweils eine Uhr in der Hand halten und sie dehnen wie Knetmasse
Die Zeit lässt sich weder aufhalten, noch beschleunigen. Und manchmal geschieht es doch. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Hält man es mit Newton, ist die Zeit ein einfach zu fassendes Phänomen. „Die absolute, wahre und mathematische Zeit“, so deklamierte der Universalgelehrte, „fließt aufgrund ihrer eigenen Natur und aus sich selbst heraus ohne Beziehung zu etwas Äußerem gleichmäßig dahin.“ Doch offenbar ist es vertrackter. Einstein rechnete in seiner Relativitätstheorie vor, dass der Zeitfluss etwa vom Bewegungstempo im Raum abhängt: Je schneller man dahinrast und je mehr man sich dabei der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto langsamer vergeht die Zeit. Auch psychologisch hält die Zeit einige seltsame Erfahrungen bereit, zum Beispiel die folgenden.

1 Zeitlupe

Es ist ein beliebtes dramaturgisches Mittel in Spielfilmen: Bei einer Verfolgungsjagd auf kurvenreicher Gebirgsstraße verliert der Mensch am Steuer plötzlich die Kontrolle über sein Fahrzeug, bricht durch die Leitplanke – und nun setzt die Zeitlupe ein. In quälender Langsamkeit erleben wir den Sturz in die Tiefe.

Ähnliche Erfahrungen gibt es tatsächlich, jenseits des Kinos. Manche Menschen berichten über Erlebnisse, in denen der Zeitfluss extrem verlangsamt zu sein schien, fast bis zum Stillstand. Die Zeit dehnte sich ins Unendliche. Der Psychologe Steve Taylor von der Leeds Beckett University hat vor einigen Jahren 74 Erfahrungsberichte solcher time expansion experiences zusammengetragen. 40 von ihnen ereigneten sich tatsächlich im Umfeld eines Unfalls, meist mit dem Auto. Zwölf betrafen meditative oder spirituelle Erfahrungen, sieben kamen unter dem Einfluss psychedelischer Drogen zustande. Fast alle Personen beschrieben diese Erlebnisse – selbst inmitten von Lebensgefahr – als einen Zustand innerer Ruhe. Auch die Umgebungsgeräusche schienen weit weg und wie durch einen Filter gedämpft. In manchen Fällen hatte die Zeitdehnung dramatische Ausmaße: Sekunden wurden zu Minuten oder die Zeit schien sogar gänzlich bedeutungslos.

Einer von denen, die so ein Erlebnis hatten, ist David Eagleman, der heute am Baylor College in Houston Neurowissenschaften lehrt. Als Achtjähriger fiel er von einem Dach und erlebte einen episch langen Sturz – bis er unten ankam und sich die Nase brach. Seitdem ließ den Mann das seltsame Erlebnis nicht mehr los. Wie war es zu erklären? Eine Hypothese wäre, dass das Gehirn in existenzieller Not die eigenen Abläufe beschleunigt. Es registriert das Geschehen dann womöglich viel schneller als gewöhnlich, und daher scheint ringsherum alles verlangsamt abzulaufen – so ähnlich wie bei einer Fliege, die die nach ihr schlagende Menschenhand mutmaßlich in Zeitlupe wahrnimmt und ihr daher mühelos entflieht.

Eagleman prüfte diese Hypothese mit zwei Kollegen in einem Experiment. Sie überzeugten sechs Versuchspersonen davon, sich in einem Fahrgeschäft, wie man es in Vergnügungsparks findet, aus einer Höhe von 31 Metern in freiem Fall in die Tiefe zu stürzen, wo sie ein Fangnetz in Empfang nahm. Während des Falls starrten sie auf ein Display an ihrem Arm, dessen Bild in rascher Folge wechselte – etwas zu schnell für die Wahrnehmungsschwelle des Gehirns. Würde das Gehirn jedoch in der Extremsituation sein Erfassungstempo erhöhen, müssten die Fallenden auf dem Display eine Ziffer erkennen. Doch Fehlanzeige: Die Ziffer blieb unsichtbar, die Hypothese war widerlegt.

2 Déjà-vu

„Das habe ich doch schon einmal erlebt!“ In solchen unheimlichen Augenblicken geht es uns wie Bill Murray im Film Und täglich grüßt das Murmeltier: Wir haben das unzweifelhafte Gefühl, eine bereits durchlebte Szene unseres Lebens noch einmal durchzumachen. Diese rätselhafte Erfahrung namens Déjà-vu „hat Philosophinnen, Dichter, Psychologinnen, Ärzte und andere über Jahrhunderte fasziniert“, schreibt der britische Psychologe Richard Gross.

Hat es mit einer Konfusion zwischen Traum und Realität zu tun? Tagesreste hat Sigmund Freud die in unsere Träume eingebauten Erinnerungsschnipsel an die Erlebnisse des Vortags genannt. Könnte es sein, dass Déjà-vu das Gegenstück dazu ist, nämlich eine Art „Nachtrest“, eine vage Assoziation zu einem vergessenen Traumerlebnis? Oder ist es, wie William James vermutete, einfach eine ganz normale Erinnerung, die wir bloß nicht richtig zuordnen können? Vielleicht, so spann der Psychoanalytiker Oskar Pfister den Faden weiter, handelt sich um kompromittierende Erinnerungen, denen der reguläre Zugang zum Bewusstsein verweigert wird.

Eine andere Theorie knüpft an der Beobachtung an, dass manche Menschen mit Epilepsie im Vorfeld eines Anfalls ähnliche „Reminiszenzen“ erleben. Könnte ein Déjà-vu also auf ­fehlerhaft feuernde Neuronen in jenen Hirnregionen zurückzuführen sein, die den Eindruck von Vertrautheit vermitteln? Oder – so eine weitere Erklärung – arbeiten verschiedene Hirnmodule leicht asynchron, was ein Gefühl sich überlappender Ereignisse hervorrufen könnte?

3 Traumzeit

Nach dem gespenstisch anmutenden „Traumzeit“-Konzept der australischen Aborigines wären Déjà-vus wohl überhaupt nichts Außergewöhnliches. Denn nach dieser Vorstellung ist unsere gesamte Realität nicht festgelegt, sondern sie wird fortlaufend überschrieben.

Am Anfang aller Zeiten – in der Traumzeit – schufen die Ahnen aus einem Nichts das Land, den Himmel, die Berge, Flüsse, Pflanzen, Tiere und Menschen, indem sie all dies herbeisangen. Was die Traumzeit jedoch von Schöpfungsmythen anderer Kulturen unterscheidet, ist die permanente Präsenz dieser Welterschaffung. Die Traumzeit ist ein Anfang, der nie endet. Sie umspannt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Welt muss fortlaufend neu in ihre Existenz gesungen werden.

Doch nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum steht in Wechselwirkung mit der Traumzeit. „Sie ist kein Jenseits, sondern durchdringt unsere Welt und spiegelt sich in der Landschaft“ – so beschrieb es die Autorin Raphaela Edelbauer, deren Mutter sich als Ethnologin mit dem Konzept auseinandersetzte, in einem Psychologie-Heute-Interview (Heft 12/2020). Sie schilderte ein Beispiel: „Wir begehen ein Verbrechen, dessen Auswirkungen die Ahnen in der Traumzeit in Kämpfe verstrickt, und in der Folge entsteht ein See, wo vorher eine Wiese war. Wir sind aber nicht in der Lage, diese permanenten Veränderungen wahrzunehmen – uns kommt es vor, als sei dort schon immer ein See gewesen.“

Quellen

Raphaela Edelbauer im Interview: „Alles ist schon da und war immer da“. Psychologie Heute, Heft 12/2020

Richard Gross: The Psychology of Time. Routledge, 2024

Chess Stetson, Matthew Pl Fiesta, David M. Eagleman: Does Time Really Slow Down during a Frightening Event? PLoS One, 2/12, 2007, e1295

Steven Taylor: When seconds turn into minutes. Time expansion experiences in Altered States of Consciousness. Journal of Humanistic Psychology, 62/2, 2020, 208-2032

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?
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