Hermann Ebbinghaus büffelt Sinnloses. Also gut, noch einmal: löm, chin, jös, noit, sit, mök, häm… Und dann kam chom. Oder shüt? Hermann Ebbinghaus, promovierter Philosoph und jüngst durch den frühen Tod des Preußenprinzen Waldemar seiner Stelle als dessen Hauslehrer verlustig gegangen, sitzt in seiner Kammer in Berlin und paukt Nonsenswörtchen. Seit Monaten geht das nun so.
Erst hat er es mit dem Memorieren von Gedichten versucht. Doch die Wörter erwiesen sich als tückisch, weckten vielfältige Assoziationen. Das war hinderlich. Denn dem jungen Forscher geht es darum, grundlegende Gesetzmäßigkeiten des Gedächtnisses zu erkunden. Deshalb erfindet er schließlich seine „sinnlosen Silben“, wie er sie tauft. Und die prägt er sich nun ein, in Reihen von acht, zwölf oder mehr Wörtchen, Stunde um Stunde, Tag für Tag.
Die magische Ziffer 7
Das Ergebnis seiner Experimente wird er am 23. April 1880 als Habilitationsschrift an der Friedrich-Wilhelms-Universität einreichen und fünf Jahre später – nach weiteren geduldigen Selbstversuchen – in einem Buch veröffentlichen: Über das Gedächtnis. Er hoffe, so schreibt er, dass in den Daten „manches Verhältnis von allgemeiner Gültigkeit enthalten sein“ möge – eine groteske Untertreibung, wie sich herausstellen wird: Ebbinghaus’ Selbstversuche gelten als Urknall der experimentellen Gedächtnispsychologie. Viele der Gesetze, auf die er stößt, sind bis heute gültig, und die Methoden, mit denen er dies tut, sind noch immer im Umlauf.
Am berühmtesten ist die „Vergessenskurve“: Ebbinghaus notiert, wie viele Elemente einer erfolgreich gelernten Silbenreihe er nach einigen Minuten, Stunden und Tagen noch korrekt wiedergeben kann. Am Anfang weist die Kurve steil nach unten, dann wird sie immer flacher – manches bleibt hängen.
Ebbinghaus entdeckt, dass auch bei den vergessenen Silben das Lernen nicht vergebens war: Wenn er sich eine Reihe, die er gelernt und dann vergessen hat, noch einmal einprägt, braucht er weniger Lerndurchgänge. Und er entdeckt auch bereits die „magische Ziffer sieben“: Das ist die maximale Zahl der Silben, die er sich auf Anhieb einprägen kann. Ebbinghaus beschreibt damit – siebzig Jahre vor George A. Millers Bestätigung – das Fassungsvermögen des Kurzzeitgedächtnisses.
1995 Elizabeth Loftus implantiert falsche Erinnerungen
1985 Graf und Schacter entdecken ein implizites, unterbewusstes Gedächtnissystem
1983 Endel Tulving erforscht das episodische Gedächtnis
1956 George A. Miller bestätigt, dass wir nur sieben Elemente im Kurzzeitgedächtnis behalten können
1932 Frederic Bartlett stellt fest, dass wir Erinnerungen ausschmücken
1880 Hermann Ebbinghaus büffelt Sinnloses